JOYCE CAROL OATES: ZWEI ODER
DREI DINGE, DIE ICH DIR NICHT ERZÄHLT HABE
Die Schüler der Quaker Heights Day School in New Jersey kommen allesamt aus gehobeneren
Kreisen, denen die Standards einer staatlichen Schule nicht genügen würden. Drei
17-jährigen Schülerinnen, die kurz vor dem Abschluss mit der Graduation stehen, widmet
sich Joyce Carol Oates mit ihrem mittlerweile siebten Jugendroman unter dem Titel
Zwei oder drei Dinge, die ich dir nicht erzählt habe.
Um es vorweg zu sagen: die Großmeisterin pyschologischer Romane spielt damit nicht auf
Liebesgeflüster an, vielmehr geht es um die Befindlichkeiten hinter den Fassaden und jene
Geheimnisse, die man nicht mal besten Freundinnen erzählt. Dabei sind Merissa, Tink und
Nadja nicht einmal wirklich eng befreundet. Mit der scheinbar so glänzenden
Überfliegerin Merissa beginnt der Roman und nach außen ist sie die typische
Highschool-Prinzessin mit strahlendem Aussehen, besten Leistungen und etlichen Funktionen,
die ihr wie von selbst zufliegen. Und natürlich hat sie auch bereits die Zulassung zu
ihrer Wunsch-Universität.
Was aber selbst Tink, die für Merissa einen gewissen inneren Halt bedeutet, nicht weiß,
ist, dass sich die Schöne durch Fasten und noch mehr mit immer aggressiverem Ritzen der
Haut gegen die quälende Familiensituation wehrt. Die Ehe der Eltern zerbröselt und die
schwache Mutter mit ihren Beruhigungspillen ist keine Hilfe. Vor allem aber leidet das
Mädchen unter dem desinteressierten und meist abwesenden Vater, von dem sie
Aufmerksamkeit oder gar Liebesbeweise nur als Dank für herausragende Leistungen erwarten
kann.
Tink allerdings, die im zweiten Teil des Buches in den Mittelpunkt rückt und die
vielleicht interessanteste, zumindest aber die rätselhafteste Protagonistin ist, hat sich
so seltsam aus dem Leben verabschiedet, wie sie in ihrer Zeit an dieser Schule auch sonst
aufgetreten ist. Schon früh war das Kind einer Fernsehschauspielerin ein Kinderstar,
verweigerte sich als Teenager dann aber völlig der Rolle einer braven Tochter und ging in
ihren Ablehnungen jeglicher Zumutungen so weit, dass sie auf Tink als Namen
bestand und das korrekte Katharina schlichtweg ignorierte. Doch bis in den mutmaßlichen
Selbstmord hinein behielt sie am eisernsten von den Dreien ihre Maske auch gegenüber den
Freundinnen auf.
Wobei Nadja schließlich für den größten Aufruhr sorgt. Noch mehr als die Anderen
vermisst die etwas Füllige mit den schönen Augen Liebe und Zuwendung. Schon lange ist
die Mutter verschwunden und der herrschsüchtige Vater missachtet sie geradezu, während
er längst mit einem jungen Model verheiratet ist und den Tod der ersten Frau einfach vor
Nadja verschwiegen hat. Sie als regelrechte Pech-Marie leidet außerdem unter
Cyber-Mobbing, seit ihr ein Mitschüler eine besondere Gemeinheit zugefügt hat: er
missbrauchte sie, nachdem er ihr eine Pille ins Bier geschmuggelt hatte. Und er sorgte
dafür, dass sie nun als Schlampe angemacht wird.
Um so heftiger verwechselt Nadja in ihrer Naivität Freundlichkeit mit Liebe, als ihr ein
junger Lehrer mehr als die übliche Aufmerksamkeit schenkt. So kommt die unbeholfene,
weltfremde Schülerin auf die abstruse Idee, ihrem vermeintlichen Verehrer ein besonderes
Geburtstagsgeschenk zu machen. Was prompt zum Skandal führt, denn sie greift sich dazu
ein echtes Kandinsky-Gemälde aus der väterlichen Villa.
Was für ein Blick hinter die Kulissen der Wohlstandsgesellschaft unserer Zeit, wo die
äußerlich so gehätschelten Kinder sich in Essstörungen, Autoaggression und gar
Selbstmord flüchten oder ohne Selbstwertgefühl Missbrauch und Mobbing anheimfallen. Da
werden Kinder nicht mehr um ihrer selbst geliebt, sondern finden Anerkennung und Zuwendung
nur noch als Lohn für erbrachte Leistungen. Und die hilflosen Mütter werden in ihrem
ständigen Konkurrenzkampf gegen jüngere Rivalinnen eher zur zusätzlichen Belastung, als
dass sie Unterstützung bieten könnten.
Fazit: Joyce Carol Oates hat auch mit ihren 76 Jahren eine feine Antenne für die Misere
Jugendlicher aus betuchten aber soziologisch gesehen armen Kreisen. Keine leichte
Lektüre, aber großartig geschrieben und trotz starkem US-Ambiente auch für hiesige
Teenager eine gerade wegen ihres Realismus fesselnde Geschichte.
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