JOHN BOYNE: „SO NAH WIE FERN“


Alfie Summerfield wird den 28. Juli 1914, den Tag, an dem der Erste Weltkrieg ausbrach, nie vergessen, denn es war auch sein fünfter Geburtstag. Nur wenige der Eingeladenen kommen, denn irgendwie ist das kein Tag zum Feiern. Um so weniger, als sich am nächsten Tag auch Vater Georgie, der örtliche Milchmann, nicht freudig aber doch freiwillig zum Militär meldet.
Damit beginnt John Boynes jüngster Jugendroman „So fern wie nah“. Immerhin kommen anfangs regelmäßig Briefe vom Vater, hier im Londoner Stadtviertel aber hat sich auch sonst fast alles verändert. Alfies beste Freundin Kalina Janacek musste fort, denn als Einwanderer aus Prag – damals noch zu Österreich-Ungarn gehörend – wurden sie als „Personen von besonderem Interesse“ aus einem Feindesland stammend auf die Isle of Man interniert.
Papas bestem Freund Joe blüht ein ganz anderes Schicksal, denn er hat sich dem Armeedienst verweigert. Seine schlichte Begründung: warum sollte er auf Menschen schießen, die er gar nicht kennt. Und das für einen König, der auch noch nie etwas für ihn getan hat. So wird er ins Gefängnis geworfen und später auf offener Straße als Feigling angefeindet. Alfies Mutter Margie dagegen müht sich derweil mit Überstunden und Nachtschichten um den Lebensunterhalt der Familie.
Der Junge aber trägt das Seinige bei, indem er heimlich am Bahnhof King's Cross tageweise als Schuhputzer so manchen Penny hinzuverdient. Die Utensilien dazu hat er aus der verlassenen Wohnung der Janaceks gestohlen. Doch mehr und mehr drücken die Kriegsauswirkungen auch hier in der Heimat. Der Vater kehrt nicht heim und auch seine Briefe werden immer seltener. Noch beschwichtigt die Mutter den besorgten Jungen mit der Notlüge, der Vater sei in geheimer Mission unterwegs und könne deshalb nicht mehr so oft schreiben.
Doch Alfie weiß längst, wo Mutter die Briefe versteckt, und ihr Inhalt verwirrt und verstört ihn zunehmend, Viel Verzweiflung klingt aus den Zeilen und auch die bittere Klage: „Sie haben gesagt, bis Weihnachten ist es vorbei. Aber sie haben nicht gesagt, welches Weihnachten.“ Dann jedoch bleiben die Briefe ganz aus, aber auch Alfies tägliche Suche nach Vaters Registernummer auf Seite 4 der Zeitung, wo die Opfernamen aufgeführt werden, bleibt ergebnislos.
Bis ihm beim Schuheputzen ein gütiger Zufall zuhilfe kommt, als Dr. Ridgewell, einem seiner Kunden, Unterlagen herunterfallen und er die Nummer entdeckt – als Patient im Krankenhaus East Suffolk & Ipswich. Alfie erfährt von dem Arzt, dass dort Soldaten mit den schweren psychischen Folgen des sogenannten „Granatenschocks“ behandelt werden. Ohne den Zusammenhang zu ahnen, erläutert ihm der Doktor mit einfachen Worten, was es mit diesen oft schwer oder gar dauerhaft gestörten Kriegsopfern der vordersten Front auf sich hat.
Und nun wird der inzwischen Neunjährige endgültig zu einem bewundernswerten kleinen Helden, als er in kindlicher Naivität aber voller Tapferkeit versucht, seinen Vater zu retten. Mutterseelenallein fährt er zum Hospital und erlebt einen schlimmen Schock mit all den Traumatisierten dort. Vor allem aber mit seinem Vater, der ihn bei aller Wiedersehensfreude nur in lichten Momenten wiedererkennt. Mag Alfie auch nicht die Schwere der Krankheit seines geliebten Vaters erkennen, so spürt er nur zu gut, dass der hier raus und unbedingt nach Hause muss, um wieder eine Chance zur Genesung zu bekommen.
Das Alles berührt zutiefst, zumal John Boyne das wie stets mit viel Feingefühl und sehr authentisch aus dem Blickwinkel dieses wunderbaren kleinen Helden geschrieben hat. Ohne jeden Blick auf ein Schlachtfeld wird offenbar, welche Verheerungen der Krieg auch daheim, bei den Familien, in der Gesellschaft und bei jedem Einzelnen verursacht. Fazit: ein großartiger Antikriegsroman mit Klassikerpotential, der nicht nur junge Leser ab zwölf Jahre fesseln und berühren wird.

# John Boyne: So fern wie nah (aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Martina Tichy); 254 Seiten; Fischer KJB, Frankfurt; € 12,99

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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