PATRICK NESS: „MEHR ALS DAS“


Seth ist knapp 17, als er sich in den eiskalten Pazifik stürzt, um sich umzubringen. In einem brachialen Todeskampf wird er an Felsen zerschmettert. Doch dann erwacht er in dem Haus in England, in dem er bis zu dem überhasteten Umzug mit seinen Eltern nach Amerika gelebt hat. Nackt, verletzt, durstig, aber – lebendig.
Abgrundtiefe Einsamkeit umfängt ihn, die einst vertraute Wohngegend wirkt so fremd und heruntergekommen wie das Haus.
Mit dieser bedrückenden Einstimmung beginnt „Mehr als das“, der neue Jugendroman von Erfolgsautor Patrick Ness. Wie real ist diese Welt, soll dies seine eigene persönliche Hölle sein? Und warum hier, wo seine Kindheit durch seine Schuld ein jähes Ende fand, weil er es einem entflohenen Mörder ermöglichte, seinen kleinen Bruder Owen zu entführen. Er war selbst noch ein Kind, doch die Schuld drückt ihn riesengroß. Und in den Passagen der Erinnerungen kommt das zusätzliche Zwerwürfnis mit den Eltern hinzu, als seine Homosexualität und sein Verhältnis mit dem attraktiven Klassenkameraden Gudmund offenbar wird.
Überleben kann er hier trotz dieser Konfusion über seinen Zustand und diese Zwischenwelt, denn es gibt noch Wasser und der Supermarkt birgt noch brauchbare Waren. Doch plötzlich bricht eine radikale Wendung in die zutiefst beklemmende Einsamkeit, als er erst fast Opfer ein Opfer eines aggressiven Wildschwein wird und dann wie aus dem Nichts zwei Menschen auftauchen: die junge massive Regine und der spirrige Tomasz. Und schon wird es höchst dramatisch, denn die Beiden warnen ihn vor dem „Unding“, das sie jagt. Ein schwarzer gesichtsloser Koloss, der die Drei mit seinem hochmodernen schwarzen Fahrzeug verfolgt.
Die Spannung vibriert und es wird rasant und immer unheimlicher, weil der Jäger ihnen gnadenlos mit seiner entsetzlichen Waffe auf den Fersen ist. Was aber würde passieren, wenn das Unding sie erwischt – würden sie noch einmal sterben? Oder sind sie gar nicht wirklich tot und alles ist eine Simulation? Mindestens so fesselnd wie diese Fragen sind auch die Reflektionen der Vergangenheit, die Seth wie in einem Puzzlespiel in seine traurige Vergangenheit mit dem verstörenden Verhältnis zu den Eltern zurückführt, die Verwicklungen mit dem geliebten Gudmund und den anderen Freunden.
Doch es wird nicht nur immer tiefgründiger, immer neue raffinierte Wendungen machen das Geschehen unglaublich packend, als die Drei schließlich in das nahbei gelegene Gefängnis eindringen, wo das Unding offenbar herkommt. Es ist der Eintritt in eine angsteinflößende fremde Welt mit atemberaubenden Erkenntnissen. Die aber sollen hier bewusst nicht einmal angedeutet werden, denn das würde den Genuss dieses grandiosen Romans beeinträchtigen, bei dem sich nicht nur junge Leser ab etwa 14 Jahren sondern ganz gewiss auch erwachsene Leser regelrecht in einen Trancezustand lesen werden.
Es sei betont, dass es sich hier weder um Fantasy noch um ScienceFiction handelt, um so mehr aber bei aller Spannung und Dramatik auch die philosophische Tiefe beeindruckt. Geschrieben ist das in einem dichten, mitreißenden Stil und die Charaktere faszinieren mit ihren vielen Facetten und gediegenen Konturen. Selten bietet ein Roman so viele unvergessliche Passagen und das Fazit kann nur lauten: ein absolutes Meisterwerk mit allen Qualitäten für einen Jugendbuchklassiker.

# Patrick Ness: Mehr als das (aus dem Englischen von Bettina Abarbanell); 511 Seiten; cbj Verlag, München; € 17,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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