ANNA FUNDER: „ALLES, WAS ICH BIN“


Die australische Anwältin und Dokumentarfilmerin Anna Funder lernte in Melbourne Ruth Blatt (1906-2001) kennen, die letzte Sekretärin des jüdischen Schriftstellers und Pazifisten Ernst Toller (1893-1939). Durch die betagte Emigrantin erfuhr sie vom Schicksal einer kleinen Gruppe deutscher Linksaktivisten um den charismatischen Politiker und Revolutionär, die vor den Nazis ins Exil flüchteten.
Ihr Schicksal holte sie nun aus der Vergessenheit und schuf daraus den in ihrer Heimat bereits preisgekrönten Roman „Alles, was ich bin“. Die bewegenden Ereignisse als Fiktion niederzuschreiben, erweist sich dabei als geschickter Kunstgriff. Einerseits kann die Autorin so alles von den wechselnden Ich-Erzählern Ruth und Toller mit großer Nähe zum Leser berichten lassen. Zum Anderen konnte sie die Memoiren, die Toller seiner Sekretärin 1939 vor seinem Suizid diktierte, in voller Authentiziztät einbringen und dem die teils nur vage überlieferten Schilderungen Ruth Blatts gegenüberstellen.
Im Mittelpunkt stehen vor allem die Feministin Dr. Dora Fabian (1901-1935) und Mathilde Wurm (1874-1935), bis zur Machtergreifung Hitlers neun Jahre Reichstagsabgeordnete vom linken Flügel der SPD. Ruth Blatt (hier Becker genannt) als Doras Cousine und enge Vertraute sowie ihr Mann Hans Wesemann (1895-1971) gehören neben Ernst Toller ebenfalls zu dem Kreis der Emigranten, die nach aufregenden Umwegen schließlich in London landen. Doch die bis dato Prominenten sind nun Fremde und zugleich Verfolgte des Nazi-Regimes.
Das allerdings nicht nur wegen ihrer Vergangenheit sondern auch, weil sie auch weiterhin als Widerstandskämpfer wirken. Unter erheblichen Gefahren, denn sie riskieren nicht nur ihre Duldung als Asylanten, die Nazis sind ihnen auch hier in England auf den Fersen und der Arm der Gestapo reicht ungeahnt weit. Sie spionieren, sie agitieren, halten aber zugleich selbst unter diesen bescheidenen Lebensumständen ihr gewohntes intellektuelles, bürgerliches Leben weitgehend aufrecht.
Zu all dem kommt noch die leidenschaftliche Liebesaffäre Doras mit Ernst Toller, dessen Koffer voller Schriften und Tagebücher sie vor den Nazis rettete, als er daheim in Haft war. Doch die Unsicherheit ist ständig um sie, denn die Versuche der Feinde sind mal dreist, mal hinterhältig und die Furcht vor Verrat erweist sich schließlich auf fatale Weise als begründet.
Nach den Rückblicken auf das Treiben im beschwingten Berlin bis zur Machtergreifung machen die so unmittelbaren Schilderungen Ruths und Tollers die paranoide Gegenwart auf dem dünnen Eis des Exils um so spürbarer. Und als Dora und Mathilde am 1. April 1935 gemeinsam in ihrem Hotelzimmer in den Tod gehen, proklamiert die Gestapo dies hämisch als Doppelselbstmord. Der Leser aber wird die andere Version von der Ermordung durch Nazi-Schergen aus offensichtlichen Gründen für die weitaus wahrscheinlichere erachten.
Geschrieben ist das Alles zwar als Fiktion, doch es spielt nicht nur vor ganz und gar realem Hintergrund, auch fast alle Protagonisten sind authentische Figuren der Zeitgeschichte. Anna Funder hat die Ereignisse aus der unverdienten Vergessenheit geholt und das mit großartiger Prosa im Stile einer romanhaften Reportage, deren Spannung langsam auf subtile Weise wächst.

# Anna Funder: Alles, was ich bin (aus dem Englischen von Reinhild Böhnke); 428 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 19,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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