TILL LINDEMANN: „IN STILLEN NÄCHTEN“


Schon die Liedertexte von Rammstein-Sänger Till Lindemann sind starker Tobak von düsterer Suggestivkraft, um so mehr wandelt der 50-Jährige als Lyriker auf einem wahren Minenfeld von Schmerz, Pathos, Sehnsucht, selbstquälerischer Verzweiflung bis hin zu Abgründen von Gewalt und Perversion.
Nach dem brachialen Meisterwerk „Messer“ von 2002 hat er mit „In stillen Nächten“ nun eine Sammlung von 97 Gedichten vorgelegt, in denen er erneut geradezu lustvoll über Tabugrenzen schreitet. Ob Sado-Maso, ob Missbrauch oder Sodomie, ob Blut und Dreck – Faszination und Unbehagen liegen im Widerstreit beim Leser. Der jedoch spürt, dass das Finstere, das Exzessive nicht Selbstzweck ist.
Lindemanns sensible Seele leidet daran, dass er an der Welt leidet, weil diese ihn nicht liebt. Dann ist die alles ungebende Farbe „Schwarz: Geh ich vor der Nacht zur Ruh/Deck ich mich mit Schwermut zu/Die helle Welt will mir nicht glücken/Muss mich mit Finsternis verzücken“. Ablehnung, Hass, Enttäuschung bis hin zur Hilflosigkeit voller galligem Sarkasmus blühen als Blumen der Todessehnsucht auf und ein psychologischer Begriff steht in dicken Lettern über dieser Lyrik: manisch-depressiv.
Der Romantiker Eichendorff ist Lindemanns erklärtes Vorbild, doch auch Gottfried Benn lässt grüßen. Zuweilen finden sich geradezu dreiste Vierzeiler, mal auch steigt der Dichter hinab ins Abstruse wie beim konstruiert wirkenden „Liebeslied“. Vereinzelt aber muss man auch lächeln, wenn unversehens eine leichtsinnige Spielerei aufblinkt wie das kokette „Nackt“ mit dem schwülen Traum vom blutjungen Damenchor. Das wird dann noch übertroffen vom tänzerisch erotischen „Spring“. Dem ist eine exquisite Illustration des Grafikers und Lindemann-Freundes Matthias Matthies gegenübergestellt, wie die meisten dieser genialischen Zichnungen lustvoll pornografisch ausgeformt.
Aber selbst hier ist die abgründige Spannung allgegenwärtig, doch so berserkerhaft sich Lindemann auch immer wieder ausdrücken mag, zumeist ist seine Lyrik dennoch hoch poetisc. Zugleich scheint sie seltsam aus der Zeit gefallen, denn von der zeitgenössischen Lyrik oder gar avantgardistischen Gedichten ist dieser Brutalo-Spätromantiker weit entfernt. Da wirkt nichts versponnen oder so erratisch und gewollt abgedreht, dass nach Sinn erst gesucht werden muss.
Dies ist Poesie, die Grenzen, Moden und Geziertheiten nicht interessiert, die durchaus auch mal lyrische Regeln verletzt oder altertümelnde Worte zu einer eigenartig vorgestrig wirkenden Sprachfärbung einfügt. Weil es just so und nicht anders passt und weil es genau so aus den tiefen Gründen der Dichterseele gekommen ist. Das ist nichts für zart Besaitete oder Feingeister, doch wer sich frei macht von angeblich gültigen Sitten und Konventionen, wird hier mit Außergewöhnlichem von oft ebenso brachialer wie morbider Schönheit belohnt. Und das Urteil sei gewagt – ein Meisterwerk.

# Till Lindemann: In stillen Nächten; (herausgegeben von Alexander Gorkow); 153 Seiten, ill.; Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln; € 16,99


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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