CHRISTOPHER CLARK: DIE
SCHLAFWANDLER
Das deutsche Reich mit seinem großmachtsüchtigen Kaiser Wilhelm II. war Hauptschuldiger
am Ersten Weltkrieg dieses Urteil über die Kriegsursache wurde über Generationen
allenfalls noch abgemildert durch die Feststellung, die europäischen Mächte seinen durch
vielerlei Ereignisse in die folgenreiche Jahrhundertkatastrophe
hineingeschlittert.
Gerade recht zum 100. Jahrestag des Kriegsbeginns im August 1914 hat der
britisch-australische Historiker Christopher Clark nun ein Opus Magnum zur Frage der
Kriegsursachen vorgelegt, das unter dem Titel Die Schlafwandler. Wie Europa in den
Krieg zog zu erheblich differenzierteren und großenteils von den bisherigen
Darstellungen abweichenden Ergebnissen. Wie schon bei seinen vielfach ausgezeichneten
Standardwerken zur Geschichte Preußens und zur Biographie von Kaiser Wilhelm II. hat der
Professor für Neuere Europäische Geschichte am St. Catherine's College in Cambridge auch
hier unter Einbeziehung eines riesiges Quellenfundus wie auch mancher Archivfunde eine
Vielzahl festgefügter Vorurteile und einseitiger Interpretationen revidiert.
Für seine geradezu minutiös angelegte Ursachenforschung legt Clark zunächst ein
umfassendes Panorama der Vorkriegszeit an, die von Krisen und Spannungen durchsetzt war.
Allen voran stehen jene auf dem Balkan, wo nach dem 1. und dem 2. Balkankrieg (1912, 1913)
dann ja auch geradezu folgerichtig mit der Ermordung des österreichischen Thronfolger
Franz Ferdinand in Sarajewo am 28. Juni 1914 durch einen serbischen Nationalisten der
Zündmechanismus für den Weltkrieg ausgelöst wurde.
Der Historiker widerlegt zwar konsequent und auf fundierter Basis die Mär von der
Unvermeidbarkeit dieses Krieges, kommt aber ebenso schlüssig zu der Feststellung, dass
der gewaltbereite Nationalismus der Serben sich seit Beginn des Jahrhunderts zu einem
Katalysator für den Ausbruch aufgeschaukelt hatte. Dazu eröffnet er seine Ausführungen
mit der drastischen Schilderung des Putsches, bei dem 1903 das serbische Königspaar durch
revoltierende Offiziere gemeuchelt wurde. Die Kräfte dahinter blieben extrem virulent bis
hin zum Attentat von Sarajewo.
Ausführlich beschreibt Clark dann auch die beiden Balkankriege, in die sämtliche
Großmächte direkt oder als Bündnispartner involviert waren. Während sich das Deutsche
Kaiserreich bis zuletzt schwer tat mit dem Durchschauen der verwickelten Situation auf dem
Balkan, sorgte der Partnerschaftswechsel Serbiens weg von Österreich-Ungarn zu Frankreich
für eine fatale Entwicklung, denn Paris stand mit England und Russland im Bündnis und
mit den Hardlinern in Sankt Petersburg verknüpfte es seine Interessen mit der Entwicklung
in Serbvien zu dem, woraus nach Clarks Ansicht der entscheidende geopolitische
Zündmechanismus entstand.
Zu den Unberechenbarkeiten des Balkans gesellten sich dann noch Animositäten
entscheidender Akteure und eigensüchtige Interessen der Großmächte gegeneinander.
Dagegen steht das Fehlen von Krisenmanagern, die in der Lage gewesen wären, das höchst
komplexe Macht- und Krisengeflecht zu beherrschen und friedliche Lösungen
herbeizuführen. Als der unpopuläre Reformer Franz Ferdinand dann am 28. Juni 1914
ermordet wurde, war die Atmosphäre längst so vergiftet, dass der Kriegsausbruch quasi
unausweichlich wurde.
Historiker Clark belegt jedoch in beeindruckender Weise, dass das Deutsche Kaiserreich
dabei den geringsten Anteil an Aggression beisteuerte. Danach war auch der deutsche
Blankoscheck zur Unterstützung jeglicher Aktionen des Bündnispartners
Österreich-Ungarn vom 5./6. Juli 1914 nicht der entscheidende Zündfunke sondern
lediglich eine folgerichtige Zusage. Die hauptursächliche Weichenstellung erfolgte durch
die französischen Hardliner, die bei den Gleichgesinnten in Sankt Petersburg für die
Generalmobilmachung Russlands als alles auslösende Eskalationsstufe sorgten.
Ziel des Autors sind allerdings nicht Schuldzuweisungen sondern die Frage des Wie und des
Warum. Beide beantwortet er in seinem multiperspektivischen Vorgehen auf brillante Weise
mit überzeugender Urteilskraft. Das unheilbringende Konglomerat aus Misstrauen,
Fehleinschätzungen, Überheblichkeit, Expansionsstreben, nationalistischen Aktivisten und
einem erschreckenden Maß an Unfähigkeit sämtlicher Akteure auf dieser Sturzfahrt in
eine Katastrophe, die drei Kaiserreiche hinwegfegte, die gesamte Weltordnung sprengte und
den Nährboden für den noch schlimmeren Zweiten Weltkrieg legte, zeigt Christopher Clark
nicht nur höchst stringent sondern auch unterhaltsam und spannend auf.
Ganz nebenher entlarvt er auch die angeblich allgemeine Begeisterung bei Kriegsausbruch
als Propagandaaufbauschung, denn es herrschte überwiegend eher eine Mischung aus Schock
und allenfalls defensivem Patriotismus. Und Clark zieht ein ebenso nüchternes wie
bitteres Resümee: Kein einziges der Anliegen, für die die Politiker von 1914
stritten, war die darauffolgende Katastrophe wert. Fazit: ein weiteres Meisterwerk
des Historikers und obendrein ein Standardwerk, das neue Maßstäbe für die
Geschichtsschreibung über den Ersten Weltkrieg setzt.
|