NEAL SHUSTERMAN: VOLLENDET
DER AUFSTAND
99,44 Prozent Wiederverwendung, das ist der nach der Charta des Lebens, die
zum Ende des zweiten Bürgerkriegs der US-Verfassung hinzugefügt wurde, vorgeschriebene
Anteil dessen, was bei sogenannten Umwandlungen von Jugendlichen erhalten bleiben muss.
Vom 13. Lebensjahr bis zur Volljährigkeit mit 18 dürfen Kinder gewissermaßen
zurückgeben werden, nachdem zuvor jedes menschliche Leben von der Empfängnis
an bis zum 13. Geburtstag unantastbar ist.
Dieser makabre Aberwitz war der Gänsehaut erregende Inhalt von Neal Shustermans ebenso
düsteren wie grandiosen Jugendroman Vollendet. Eltern, die ihrer missratenen
Teenager überdrüssig geworden waren, staatliche Waisenhäuser, die Mündel ohne
wertvolle Sondertalente nicht weiter durchfüttern wollten, und schließlich die
haarsträubenden Zehntopfer, die aus religiösen Gründen geopfert wurden im
allgemeinen schon mit früher geistig-seelischer Indoktrination der Opfergaben
- das waren die Lieferanten für die Ernte-Camps, wo die Wandler umgewandelt
wurden, um fortan fast vollständig aber in vielen Menschen weiterzuleben.
Doch es kam zu Fluchten wie die von Connor Lassiter, der im letzten Moment erfuhr, dass
seine Eltern die unwiderrufliche Umwandlungsverfügung für den ungebärdigen Teenager
unterzeichnet hatten. Auf seiner abenteuerlichen Flucht vor den Häschern der
Jugendpolizei hatte er quasi nebenher Risa Ward befreit, die vom Waisenhaus ins Camp
unterwegs war, aber auch Lev, der sich als frommes Zehntopfer dann sogar lange gegen seine
Befreiung wehrte.
Ihr Weg führt sie schließlich über eine geheime Fluchthelferbewegung zum sogenannten
Friedhof, bei dem es sich um riesiges Wüstenareal für abgetakelte Flugzeuge handelt.
Nach dramatischen Ereignissen kommt es abschließend zu einer Senkung des Höchstalters
für Wandler auf künftig 17 Jahre. Das ist nun auch die Ausgangssituation
für den Folgeband Vollendet. Der Aufstand und eines sei vorweg gesagt:
häufig wirkt der zweite Band einer Trilogie wie ein Füllwerk, das aber ist hier absolut
nicht der Fall.
Vielmehr führt Neal Shusterman die komplexen jedoch souverän miteinander verbundenen
Handlungsstränge auf rasante Weise fort, gibt den Verhältnissen wie auch den Charakteren
noch mehr Tiefe. Doch gleich die Einführung beginnt mit einem Schlag in die Magengrube,
denn hier wird als weiterer von drei neuen Hauptpersonen Mason Starkey eingeführt. Er ist
ein Angehöriger der Gruppe von Teenagern mit der größten Chance auf elterliche
Umwandlungsverfügungen: die der Storchenkinder.
Wegen der strengen Unterbindung jeglicher Abtreibungen die Abtreibungsgegner waren
seinerzeit die eine Partei im Bürgerkrieg! - bleibt Frauen nur ein Weg, um ein
ungewolltes Kind loszuwerden, indem sie es storchen. Dabei legen sie es
heimlich vor einer Haustür ab und die wenig glücklichen Finder sind gesetzlich
verpflichtet, es als ihr eigenes anzunehmen. Die extrem hohe Rate von Abschiebungen am 13.
Geburtstag liegt auf der Hand. Starkey aber hatte sich schon lange darauf vorbereitet und
tatsächlich gelingt ihm nicht nur der spektakuläre Ausbruch. Er setzt auch noch ein
Fanal, sammelt als Rebell ähnlich Betroffene um sich und geht sogar in die Offensive.
Allerdings sind auch die Behörden noch perfider in ihren Jagdmethoden geworden. Obendrein
hat die Verkürzung des Umwandlungsalters eine Organverknappung bewirkt, was prompt
Teile-Piraten auf den Plan ruft, die illegal Wander für den Schwarzmarkt beschaffen.
Eingeführt wird aber auch Miracolina, wie Lev ein Zehntopfer, im Gegensatz zu ihm jedoch
weiterhin eine fast schon fanatische Befürworterin der Weandlungen, die ihrer eigenen mit
missionarischem Eifer entgegenstrebt und im heftigen Widerstreit mit Lev liegt.
Bleibt die wohl schillerndste neue Hauptfigur Camus Comprix, kurz Cam genannt.
Ohne zu viel verraten zu wollen er ist ein Produkt des Proaktiven
Bürgerforums, ein Prototyp nach einem Gedanken, der sich angesichts der
medizinischen Möglichkeiten regelrecht aufdrängt. Er trifft in einer abgeschirmten
Reha-Idylle auf Risa, die hier nach dem explosiven Finale in Band 1 im Rollstuhl sitzt.
Die Konfrontation dieser Beiden führt vollends zu faszinierenden Höhepunkten, nachdem
sich ausgerechnet die fanatische Gegnerin des Umwandlungssystems mit einer Wirbelsäule
aus einem Ernte-Camp heilen lässt.
Eine brillante Zwischenbemerkung über den Vater der Umwandlungen verweist im Übrigen auf
den Forscher Jason Rheinschild. Wie einst Oppenheimer mit der Atombombe wollte auch er das
Gute schaffen und wurde nach dem Missbrauch sein entschiedenster Gegner. Der im Titel
propagierte Aufstand dagegen nimmt erst zum actionreichen Finale hin Gestalt an, das
allerdings so spektakulär, dass das Warten auf den Abschlussband der
Vollendet-Trilogie schwer fällt. Band 2 jedenfalls bietet atemberaubende
Spannung, exzellente Dialoge und eine Fülle weiterer Aspekte und Gedanken, die man nicht
mehr vergessen wird. Zu den vielen Ideen des Autors gehören auch eingestreute Werbetexte
pro Umwandlung, die vor Zynismus nur so strotzen.
Fazit: diese Trilogie hat schon jetzt alle Kult-Qualitäten, wobei vor allem die
beklemmende Nähe von Fiktion und Realität tief unter die Haut geht. Das ist
selbstverständlich nicht nur packende Spannungsliteratur für Jugendliche ab 15 Jahre,
das begeistert Erwachsene ebenso. Für den ganzen Hochgenuss sei jedoch empfohlen, zum
besseren Verständnis Band 1 gelesen zu haben.
|