GOTTFRIED HELNWEIN: "MALEN HEISST SICH WEHREN"

Als 1979 der angesehene Wiener Gerichtsmediziner Heinrich Gross in einem Interview der österreichischen Tageszeitung "Kurier" gefragt wurde, ob es stimme, dass er während der Nazizeit Hunderte vbon Kindern durch Injektionen getötet habe, verwahrte sich dieser gegen die Vorwürfe und antwortete, soweit er wisse, sei niemand totgespritzt worden, sondern man habe den Kindern lediglich Gift ins Essen gemischt.

Der Maler Gottfried Helnwein veröffentlichte daraufhin im Wiener Nachrichtenmagazin "Profil" ein Aquarell mit dem Titel "Lebensunwertes Leben", welches ein Kind zeigt, das, tot über seinem Essen zusammengebrochen, mit dem Kopf in einem Teller liegt, den Löffel noch in der Hand. In dem begleitenden Schreiben dankte er dem ehemaligen NS-Psychiater dafür, dass er den Kindern auf so humane Weise in den Himmel geholfen habe.

Nachdem die Aussage des Euthanasie-Arztes quasi ohne Reaktionen geblieben war, löste das Gemälde Helnweins große Entrüstung aus. Für den soeben 65 Jahre alt gewordenen Künstler war das damals eine weitere Bestätigung dessen, was er schon an der Kunstakademie erlebt hatte, als er einen Professoren-Aufruhr verursachte, indem er statt des angeordneten Aktbildes Adolf Hitler malte: "Ich bekam zum erstenmal eine Ahnung von der potenziellen Macht eines Bildes."

Dies und noch viel mehr offenbart das faszinierende Buch "Malen heißt sich wehren" mit einer fulminanten Rückschau auf ein Künstlerleben der besonderen Art. Helnwein gibt darin im Gespräch mit Oliver Spiecker, der ihn vor 30 Jahren bereits einmal für das ZDF porträtierte, brillant formulierte Einsichten und Ansichten zu seinem Leben und Schaffen. Er tut dies ganz seinem obsessiven Freiheits- und Gerechtigkeitswahn entsprechend und zugleich - trotz seiner weltweiten Bedeutung als gefürchteter Meister der Bildstörung - gänzlich unprätentiös.

Maler, Fotograf, Aktionist, Bühnenbildner, Tabubrecher, Grenzüberschreiter und vieles mehr ist der gebürtige Wiener mit Lebensmittelpunkten in Irland und Los Angeles. In eine kleinbürgerliche Familie hineingeboren, empfand er die Lebensumstände seiner Kindheit und Jugend als klein, grau, eng und voller Verbote. Wien, das sei damals eine Welt gewesen wie nach einem schlampigen Weltuntergang. Geprägt von einer erdrückenden katholischen Kirche mit all ihren Dogmen habe er es als Kind besonders gehasst, nicht ernst genommen zu werden.

"Für mich ist Widerstand ein wesentlicher Teil meiner Existenz", stellt er fest und dieser Widerstand begann früh und die Kunst ist dabei für ihn "eine Waffe, mit der ich zurückschlagen kann". Und da stehen seine Kinderbilder immer wieder im Vordergrund: verwundet, blutverschmiert in fragiler Unschuld, schwer erträglich. Viel später kommen die Kindersoldaten hinzu, keine verwilderten aus afrikanischen Stammesfehden, sondern adrett gekleidete westliche Mädchen mit Maschinenpistolen zum Beispiel.

Zu seinen Werken, die auch bei denen unvergesslich sind, die mit seinem Namen vielleicht weniger anfangen können, gehört neben dem provokanten und vielfach angefeindeten Theaterplakat zu "Lulu" von 1988 (alter Galan steht vor überdimensioniertem Unterkörper einer Frau) vor allem sein Selbstbildnis von 1981 mit dem bandagierten Kopf, den Gabeln in den Augen und dem schreienden Mund. Als Cover der Scorpions-LP "Blackout" ging es 1982 millionenfach um die ganze Welt.

Immer wieder gab es für den vielfach preisgekrönten Künstler Ausstellungsabbrüche oder Bilder wurden beschlagnahmt. Doch so umstritten, provokant und oft genug fast unerträglich viele seiner Arbeiten und Aktionen auch sein mögen, Gottfried Helnwein zählt zu den bedeutendsten und wirkmächtigsten Kunstschaffenden und Gesellschaftskritikern unserer Zeit. Und immer wieder schält sich bei dem hochspannenden Gespräch sein Hauptthema heraus, das Kind. Helnweins Ausführungen dazu gehen ähnlich tief unter die Haut wie die Bilder selbst. Erwähnt sei im Übrigen, dass sich Schauspiel-Star Iris Berben im Vorwort als langjährige Verehrerin und "Komplizin" bekennt.

Fazit: nicht der Maler und Provokateur ist der Perverse, sondern derjenige, der sich über seine Werke so maßlos moralinsauer empört. Das belegt dieses ebenso hinreißende wie wichtige Lebensinterview.

 

# Gottfried Helnwein: Malen heißt sich wehren - Gottfried Helnwein im Gespräch mit Oliver Spiecker; 192 Seiten, 55 Abb., Broschur, Großformat; Edition Braus, Berlin;

€ 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen. 


Kennziffer: NF 279 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de