MANFRED HILDERMEIER: "GESCHICHTE RUSSLANDS"

Mit seiner "Geschichte der Sowjetunion 1917 - 1991" schuf Manfred Hildermeier 1998 ein allseits anerkanntes Standardwerk zu dieser Epoche. Nun hat der Professor für Osteuropäische Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen sich auch den über 1000 Jahren der vorherigen Zeit gewidmet. "Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution" ist das großvolumige Opus Magnus des Experten überschrieben und es bringt ebenfalls alle Qualitäten für ein Standardwerk zum Thema mit.

Von den Anfängen einer Staatsbildung im 9. Jahrhundert bis zum ersten, dem Kiewer Reich und dessen Untergang, der Mongolenherrschaft und dem Aufstieg Moskaus zum Zentrum der Macht bis zu all den Krisen, Fehden und Aufständen des 17. Jahrhunderts reicht der erste große Bogen. Schon hier schwelgt der Historiker im riesigen Fundus von Fakten, Details und Erkenntnissen, die allesamt auf dem neuesten Stand der Forschung beruhen. Hier wie bei den folgenden Teilen stellt Hildermeier jeweils auch wichtige Vergleiche an zwischen den Ergebnissen der aktuellsten Russland-Forschung und denen der ideologisch geprägten Darlegungen aus der Sowjet-Ära.

Nach dem abgeschlossenen, geradezu isolierten Zeitalter des "alten" Russland folgt dann der Aufbruch in modernere Zeiten, die zuvörderst vom Neuerer Zar Peter dem Großen und der Machtpolitikerin Katharina der Großen geprägt wurde. Hier nun leuchtet der rote Faden, als der durchweg das stets komplexe Verhältnis zwischen Russland und Europa sich durch die gesamte Historie zieht, zunehmend stärker auf. Der alten Form der - noch heute - vorherrschenden Autokratie im russischen Staat mit Leibeigenschaft, Adelsvorrang und der unmittelbaren Verflechtung von weltlichem Herrscher und russisch-orthodoxer Kirche folgt unter dem mit harter Hand von Zar Peter I. durchgesetzten Wandel zur Moderne eine neue Prägung des Russischen Reiches ebenso wie eine andere Beziehung zum Westen.

Symbolisiert von der Machtverlagerung des stets zentralistischen Staats ins neu geschaffene Sankt Petersburg, erfolgt nun auch der Aufbau eines Beamtensystems, eigener Manufakturen und anderer Fortschritte samt einer Annäherung an Rest-Europa. "Russland ist eine europäische Macht" lautet denn auch das Postulat der deutschen Prinzessin, die im 18. Jahrhundert als Katharina die Große Russland nicht nur zu einer immensen neuen Größe führt und es endgültig auch westlichen Einflüssen öffnet. Unwiderruflich hat sie das Riesenreich außenpolitisch und militärisch zu einer der im Mächtespiel Europas mitentscheidenden Großmächte gemacht.

Diese Wechselwirkungen spielen in Hildermeiers Ausführungen eine zentrale Rolle, wobei er stets auf differenzierte Wertungen achtet. Und er stellt unmissverständlich fest: "Zugleich war es aufgrund seiner Ausdehnung nie nur ein europäischer Staat. Russland focht an zwei Fronten." Wobei festzuhalten ist, dass in diesem ebenso ausführlichen wie präzisen Werk Themen wie Kultur, Religion, die ausgeprägte Agrarwirtschaft, die gesellschaftliche Struktur und das Militär adäquat in das Gesamtbild eingebettet sind.

Zu den großen Qualitäten dieses in der Historischen Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung erschienenen Buches gehören jedoch nicht nur die brillanten Darlegungen selbst, auch die klare Strukturierung und die zurückhaltenden Interpretationen überzeugen. Bei all dem gelingt es Manfred Hildermeier in wohltuender Weise, entgegen manchen deutschen Wissenschaftsneigungen, etwa in der Art der angelsächsischen Geschichtsschreibung so allgemeinverständlich und sogar unterhaltsam zu schreiben, dass das epochale Werk auch für den interessierten Laien ein echter Lesegenuss ist.

Fazit: ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, das nur einen Wunsch unbefriedigt lässt, denn es kommt leider ohne Abbildungen daher. Alle sonstigen Qualitäten zu einem Standardwerk aber hat es allemal.

 

# Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution; 1502 Seiten, 11 Karten; C. H. Beck Verlag, München; € 49,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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