FRANK LORENZ MÜLLER: "DER 99-TAGE-KAISER"

Kaiser Friedrich III. (1831-1888) ist ein wenig beachtetes und durch allerlei Mythen oft falsch bewertetes Phänomen der deutschen Geschichte. Als er 1888 mit bereits 57 Jahren endlich seinen greisen Vater, Kaiser Wilhelm I., beerben konnte, blieben dem bereits Todkranken ganze 99 Tage auf dem Thron, bis er am 15. Juni seinem Krebsleiden erlag.

Gerade deshalb ranken sich viele Legenden um das, was ohne diesen frühen Tod alles anders geworden wäre im Deutschen Reich und in der Welt. Frank Lorenz Müller, Professor für Neuere Geschichte an der schottischen St. Andrews Universität, rückt dem Zerrbild des Monarchen nun mit seiner Biographie "Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III von Preußen - Prinz, Monarch, Mythos" zu Leibe. Der Historiker vermeidet die sich gerade bei diesem Kurzzeitherrscher aufdrängenden beliebten Spekulationen nach dem Motto "Was wäre wenn".

Vielfach wurden da Theorien aufgetürmt, nach denen dieser moderne, liberale Throninhaber eine andere als die bisherige Politik verfolgt hätte, die viele verhängnisvolle Entwicklungen bis hin zu Erstem Weltkrieg und Drittem Reich verhindert hätte. Müllers Untersuchung unterläuft diesen Ansatz, indem er auf wissenschaftlicher Basis anhand umfangreichen Quellenmaterials untersucht, warum den meisten dieser Annahmen schlichtweg die biographischen Fakten des Langzeit-Kronprinzen entgegenstehen. Die Illusionen über den liberalen Kaiser werden durch vermeintlich offensichtliche Fakten genährt, sei es der starke Einfluss der geliebten Ehefrau Vicky - immerhin die Tochter der britischen Königin Victoria - sei es die Einvernahme des Kronprinzen durch die liberalen Kreise. Die allerdings ausblendeten, in wie vielen politischen Bereichen Friedrich Wilhelm dem Reichskanzler Otto von Bismarck geistig nahestand.

Er lehnte eine parlamentarische Monarchie nach dem Vorbild seiner Schwiegermutter nicht nur strikt ab, er wünschte sogar die Beschneidung bestehender parlamentarischer Rechte hinsichtlich des Haushalts und in militärischen Angelegenheiten. Er unterstützte Bismarcks anti-katholischen Kulturkampf ebenso wie dessen Kampf gegen sozialdemokratische Umtriebe und dessen Kolonialismus stand er sehr positiv gegenüber. Als Kronprinz hatte er im Übrigen als Militärführer in den deutschen Einigungskriegen viel Popularität erworben und wie sein Sohn und Nachfolger Wilhelm II. war er bewusst Dauer-Uniformträger mit ganz und gar preußischer Haltung zum Militär.

Mag er auch humanistisch gebildet gewesen sein und sich gern mit bürgerlichen Freunden umgeben haben - im Volke erschien der liebevoll "Unser Fritz" genannte Thronerbe schon deshalb als eine Art liberale Lichtgestalt, weil dieser traditionsbewusste Hohenzollern-Prinz mit seiner konservativen Haltung trotzdem von den erzreaktionären Machtfiguren Wilhelm I. und Bismarck geradezu freiheitlich und modern abstach.

Sofern der Kronprinz und Kaiser überhaupt liberal war - immerhin verfocht er die Einhaltung der Verfassung und sprach sich für die Pressefreiheit und gegen den allgegenwärtigen Antisemitismus aus - konkrete Umsetzungen entsprechender Gedanken fielen nicht nur den mächtigen politischen Opponenten sondern auch einem erwiesenen Hang zu Fügsamkeit und Entschlussschwäche und seinen eher durchschnittlichen Begabungen zum Opfer.

So gern der zweite Hohenzollern-Kaiser als Herrscher des mächtigsten und fortschrittlichsten Staates auf dem europäischen Kontinent auch zugunsten mehr eigener Macht nach mittelalterlicher Tradition auch den Kanzler zum Diener des Throns degradiert hätte - als Bismarck von Friedrichs tödlichem Kehlkopfkrebs erfuhr, kehrte er als nüchterner Realpolitiker sogleich wieder den betont anti-liberalen Kurs hervor.

Es war Friedrichs Sohn Wilhelm II., der Bismarck dann schon bald nach Vaters Gedankenvorbild schlicht aus dem Amt entfernte. Ohnehin belegt der Biograph eine überraschend hohe Kontinuität zwischen dem vermeintlich liberalen Vater und dem bekanntermaßen autoritären Sohn, die mit einer weit stärkeren Geistesverwandtschaft einhergeht, als bisher meist angenommen wurde. Und während Müller dem Kurzzeit-Kaiser bescheinigt, kein Neuerer sondern "ein Kind seiner Zeit" gewesen zu sein, setzte der Preußen-Prinz gleichwohl einen Trend, den Wilhelm II: dann noch immens ausweitete.

Das Talent zur Öffentlichkeitsarbeit mit intensiver Selbstinszenierung war schon für den Kronprinzen das Mittel, um ein ihm genehmes Image von sich zu verbreiten. Immerhin so erfolgreich, dass sich die Mythen um "unseren Fritz" bis heute gehalten haben. Es ist das große Verdienst Frank Lorenz Müllers, den bunten Schleier der Legenden von diesen Vexierbildern gezogen zu haben. Zugleich lernt man in diesen ebenso präzise wie unterhaltsam geschriebenen Analysen eine schillernde historische Figur in ihrem echten Erscheinungsbild kennen, die trotz der Kürze und Folgenlosigkeit ihrer Regentschaft zu Unrecht als historische Persönlichkeit ins Abseits geschoben worden ist.

 

# Frank Lorenz Müller: Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen - Prinz, Monarch, Mythos (aus dem Englischen von Sibylle Hirschfeld); 461 Seiten, div. Abb.; Siedler Verlag, München; € 24,99

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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