JEANETTE WINTERSON: "WARUM GLÜCKLICH STATT EINFACH NUR NORMAL?"

Jeanette Winterson wurde als Baby adoptiert und kam dadurch zu einem schwachen schweigenden Vater und zu einer düsteren beherrschenden Adoptivmutter. Das schlimmste aber war, dass diese große schwere Megäre nicht nur literaturfeindlich und hartherzig streng war, sondern als pathologisch frömmelnde Pfingstlerin ständig den Untergang aus dem Alten Testament beschwor.

Als das einsame und nicht nur seelisch malträtierte Adoptivkind sich mit 15 Jahren in ein anderes Mädchen verliebt und dies der obendrein obsessiv sexfeindlichen Mrs Winterson gesteht, folgt zunächst ein abstruser Versuch der Teufeslaustreibung seitens der Pfingstlergemeinde. Als das längst durch die kalte Hölle abgehärtete Mädchen zu ihrer Janey steht, um glücklich mit ihr zu werden, wird sie rausgeworfen. Dabei fällt seitens der Adoptivmutter der Satz: "Warum glücklich statt einfach nur normal?"

So lautet auch der Titel von Jeanette Wintersons autobiografischem Roman, in dem sie schonungslos offen ihre freudlose Kindheit und Jugend schildert, in der sie das Paradies der Bibliothek in der kleinen Industriestadt Accrington bei Manchester quasi davor rettet, im familiären Horror unterzugehen. Hungerstrafen, Einsperren im feuchten Kohlenkeller des ärmlichen Häuschens oder über Nacht ausgesperrt zu sein - ständig lauert angeblich der Teufel am Bettchen und schließlich sollte "das Baby, das sie zu haben wollen glaubten", später mal Missionarin werden.

Schon in ihrem sensationell erfolgreichen Debütroman "Orangen sind nicht die einzige Frucht" hatte die vielfach preisgekrönte Autorin vor fast 30 Jahren so viel Autobiografisches verpackt, dass die zutiefst getroffene Adoptivmutter ihr bittere Vorwürfe machte und den Kontakt abbrach. In diesem Erinnerungsbuch, das selbstironisch und zuweilen von herbem Witz durchzogen verfasst ist und mit wahren Juwelen von prachtvollen Sätzen begeistert, spürt man einerseits, welch starker Charakter nötig war, um diese erdrückende Lieblosigkeit auch geistig-seelisch zu überleben.

Doch zwei weitere wichtige Aspekte spielen hier eine faszinierende Rolle. Zunächst wird deutlich, wie gerade dieser ständige Kampf gegen die täglich heraufbeschworene Apokalypse wie auch die Fantasien in den Kohlenkellernächten vermutlich erst den unbändigen Willen zum Schreiben, aber auch die Eigenwilligkeit und Sprachgewalt hervorgebracht hat. Dennoch waren da selbst noch als längst erfolgreiche Schriftstellerin diese für viele Adoptivkinder so typischen Minderwertigkeitskomplexe als früh Verlassene, als von der Mutter nicht Gewollte.

Als Jeanette Winterson dann von ihrer langjährigen Partnerin verlassen wird, bricht das alles durch und mündet in einen gescheiterten Suizidversuch. Dies und eine neue Liebe regen schließlich an, was sie all die Jahre verdrängt hat - die Suche nach der leiblichen Mutter. Dieses hochspannende letzte Drittel wird zu einem Glücksfall, denn es waren nicht nur nachvollziehbare Gründe, warum die mittellose 17-jährige Ann sie damals zur Adoption freigegeben hatte.

Diese leibliche Mutter ist der völlige Gegenentwurf zur krankhaft düsteren Mrs Winterson und von ihr hört die inzwischen fast 50-jährige Tochter den schönstmöglichen Satz: "Ich habe dich immer gewollt." Fazit: ein bewegendes Meisterwerk in eigener Sache.

# Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal? (aus dem Englischen von Monika Schmalz); 251 Seiten; Hanser Verlag, Berlin; € 18,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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