PAUL KENNEDY: "DIE CASABLANCA-STRATEGIE"

Es gibt eine Fülle von Büchern, die sich fundiert dem Zweiten Weltkrieg widmen. Mal stehen die großen Themen wie Europa, Afrika und Asien im Mittelpunkt, mal einzelne Feldzüge, Feldherren und auch die politischen Hintergründe. Der britische Historiker Paul Kennedy stellt nun eine neue Betrachtungsweise in den Vordergrund, die mit teils überraschenden Erkenntnissen und Verknüpfungen überzeugt,

"Die Casablanca-Strategie" ist sein auf immensem Quellenstudium fußendes Werk überschrieben und dieser Titel deutet auf jene für die weitere Weichenstellung des Krieges so elementar entscheidende Konferenz vom 14. bis zum 26. Januar 1943 in der marokkanischen Hafenstadt hin. Bei diesem Gipfeltreffen der Alliierten, dem Stalin allerdings wegen der tobenden Schlacht um Stalingrad fernblieb, trafen US-Präsident Franklin D. Roosevelt und Briten-Premier Winston Churchill Beschlüsse über die Fortführung des Weltkrieges.

Dies erfolgte in einem Stadium, in dem die Wende des Krieges gegen die Achsenmächte und Japan sich zwar erahnen ließ, beide Gegner jedoch noch immens stark waren und eine Fortdauer des Ringens noch über viele Jahre zu befürchten stand. Mit Roosevelt und Churchill berieten die CCS (Combined Chiefs of Staff) und die Priorität in der Reihenfolge des weiteren Vorgehens war am Ende klar: "Germany first".

Die in Casablanca ausgearbeitete "grand strategy" sah einen multi-kausalen Ansatz vor, der sich folgerichtig an den herrschenden Situationen ausrichtete. Die erste der gewaltigen Herausforderungen betraf die Sicherheit der Seewege im Atlantik, denn allein 1942 hatten die deutschen U-Boote 7,8 Millionen BRT an Tonnage versenkt und im März 1943 standen die Alliierten bei der Versorgung durch Konvois am Rande der Niederlage.

Hier war also nicht nur das Überleben Großbritanniens als Sprungbrett gegen das Deutsche Reich gefährdet, welchen Sinn hätte das Rüberschaffen einer ganzen Invasionsarmee einschließlich Unmengen an Flugzeugen und Panzern gemacht, wenn der Treibstoff und die sonstige Versorgung nicht nachkamen. Wie auch bei den weiteren Themenfeldern stellt der Geschichtsprofessor der Yale University hier nicht namhafte Feldherrn oder Politiker in den Mittelpunkt sondern die "Problemlöser", jene Männer, die die technischen und taktischen Neuerungen austüftelten, um den Feind auszuhebeln.

Was sich dabei von Anfang 1943 bis zum Hochsommer 1944, als der Sieg der Alliierten unabwendbar wurde, ausrüstungsmäßig und taktisch tat, schildert Kennedy technisch und militärisch ebenso kompetent wie lebendig. So erfährt man vom Feldzug um die Luftherrschaft über Deutschland, die nach schweren Verlusten erst im Frühjahr 1944 endgültig errungen wurde. Dazu gehören Details wie die fast zufällige Entdeckung der P 51 "Mustang" als dem entscheidenden Begleitjäger für die Bomberströme oder all die Spezialpanzer aus General Percy Hobarts "Trickkiste" für die Invasion in der Normandie.

Kennedy macht kein Hehl aus seiner Bewunderung für die operative Effektivität der deutschen Wehrmacht, der er generell eine bis zu 30-prozentige Überlegenheit an Kampfkraft gegenüber allen anderen Streitkräften bescheinigt. Sie sei nur besiegbar durch zahlenmäßige und technische Überlegenheit gewesen. Hier geht er auch auf den russischen Kriegsschauplatz ein, wo die Wende durch Stalingrad lediglich eingeleitet worden sei. Den Sowjets seien ihre immensen Massen an Soldaten und Panzern - Stichwort T 34 als gefürchtete Wunderwaffe - zugute gekommen.

Ähnlich wie die Japaner auf dem asiatischen Kriegsschauplatz hatte die Wehrmacht bei ihrem Blitzkrieg-System die Fronten im Osten weit überdehnt und die geballte "Operation Bagration", die im Sommer 1944 kurz nach Beginn der Invasion der Alliierten im Westen losbrach, besiegelte die Wende zugunsten der Roten Armee. Bei der Invasion schließlich liefen die strategischen Vorgaben exemplarisch aufeinander zu und Kennedy zeigt detailliert auf, wie an der Normandie-Küste die See- und die Lufthoheit sich vereinigten mit dem Landkrieg, nicht zu vergessen die intensiven und oft verlustreichen Probeläufe in Dieppe, Nordafrika, Sizilien und Süd-Italien.

Dem schließt sich das Kapitel zum pazifischen Schauplatz an, wo der kluge Analytiker unter den vielen ausschlaggebenden Aspekten drei hervorhebt. Neben dem massiven Neubau der Hauptwaffe Flugzeugträger war dies die Entwicklung des überlegenen Jägers "Hellcat" und noch mehr der als Wunderwaffe gerühmte Fernbomber B-29 "Superfortress", mit denen Japans Städte erreichbar wurden und schwerste Zerstörungen erlitten. Hier aber war die Eroberung der Marianen-Inseln im rundherum kriegsentscheidenden Juni 1944 die Grundvoraussetzung.

Die Invasionen in Europa, die Rote Armee auf breiter Front im Vormarsch, das erfolgreiche "Inselhüpfen" der Alliierten im Pazifik - Kennedy stellt die Verknüpfung des Geschehens bis zum Hochsommer 1944 mit dessen Vorarbeiten sehr anschaulich und mit zwingender Logik dar. Nüchtern und sachlich bringt er seine Schlussfolgerungen auf den Punkt und erarbeitet dabei teils erstaunliche Erkenntnisse über Strukturen, Kriegsziele und einzelne Ereignisse.

Fazit: diese spannende Kriegsgeschichtsschreibung auf hervorragendem Niveau eröffnet tatsächlich neue Sichtweisen und darf gewiss als ein Standardwerk zu diesem großen komplexen Thema angesehen werden.

 

# Paul Kennedy: Die Casablanca-Strategie (aus dem Englischen von Martin Richter); 448 Seiten, div. Abb.; C. H. Beck Verlag, München; € 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: SB 310 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de