HENRY KISSINGER: "CHINA"

Noch heute sieht sich China als das "Reich der Mitte" und als Mittelpunkt der Welt in seiner ganz anderen Sichtweise als die des Westens. Nur wenige Westler können das so versiert aus eigener Kenntnis darlegen wie Henry Kissinger, Sicherheitsberater etlicher US-Präsidenten und von 1973 bis 1977 Außenminister.

Sein Wissen, seine persönlichen Erfahrungen und seine Einschätzungen legte er nun in dem umfassenden, teils autobiografischen Werk mit dem schlichten Titel "China" vor. Der Untertitel "Zwischen Tradition und Herausforderung" deutet zudem einen fundierten Rückblick auf Chinas über dreitausendjährige Geschichte wie auch Prognosen für das angelaufene Jahrhundert an. Das massive Insiderwissen erwarb sich der 1923 in Fürth geborene und 1938 in die USA emigrierte Kissinger durch viele Dutzend Reisen in das große Land und durch unzählige Zusammenkünfte mit wichtigen und auch hochrangigen Politikern des Milliardenvolkes.

So unerlässlich es zum Verständnis der Geisteshaltung auch sein mag, die jahrtausendelange Vergangenheit Chinas zu kennen, sind doch die Schilderungen der politischen Annäherung zwischen der Weltmacht USA und dem aufstrebenden kommunistischen Reich die spannenderen Passagen, die teils in den Fakten, vor allem aber in der Darlegung von Verflechtungen und Folgen einige überraschende Aspekte offenbaren.

Ob es damals so offensichtlich in der Weltöffentlichkeit bekannt oder heute noch präsent ist, was den wesentlichen Anstoß zu jener Öffnung gab, die dann als "Pingpong-Diplomatie" von Präsident Nixon Anfang der 70er Jahre Furore machte? Im Sommer 1969 war die Entzweiung der kommunistischen Bruderstaaten Sowjetunion und Rot-China so weit eskaliert, dass eine Million Sowjetsoldaten an Chinas Grenzen massiert waren und der Kreml in den Warschauer Pakt-Staaten die Risiken eines nuklearen Präventivschlages gegen die noch in den Anfängen steckende chinesische Atommacht ausloten ließ.

Es kam zu der verblüffenden Entscheidung der US-Regierung, zugunsten der quasi weniger aggressiven und ungefährlicheren kommunistischen Macht China. Das Signal bedeutete, es sei "nicht im Interesse der USA, wenn China in einem chinesisch-sowjetischen Krieg zerschlagen werde". Zwar gab es noch keine klare Strategie, dennoch wurde das Postulat schließlich auch öffentlich gemacht: ein Konflikt zwischen UdSSR und China sei "eine Angelegenheit des nationalen Interesses der USA."

Kissinger war der Architekt der einsetzenden USA-China-Politik mit der historischen Öffnung von 1971 gegenüber dem ideologischen Erzfeind, mit dem der Westen noch 20 Jahre zuvor im Korea-Krieg schwer gerungen hatte. Die Beschreibungen der chinesischen Außenpolitik und vor allem solcher Machtinhaber wie Mao Tsedong und Tschou-en-lai faszinieren, denn Kissinger war stets mittendrin und er versteht es mit intellektueller Brillanz, auch schwierigste Facetten zu verdeutlichen.

Dazu gehören auch die für Westler häufig fremd wirkenden Denkweisen der geschichtsbewussten Nachfahren großer Dynastien. Doch der passionierte Geheimdiplomat ging als Art moderner Metternich grundsätzlich mit der kühlen Intelligenz des Realpolitikers zu Werke, der dabei auch die langfristig angelegte globale Politik des modernen China nüchtern analysiert. Was bei aller Klarheit und Brillanz des Dargelegten jedoch irritiert, ist die geradezu zynisch neutrale Haltung Kissingers zu den noch immer unterdrückten Menschenrechten bis hin zu staatlichem Terror auch nach dem 1989er Massaker auf dem Tienanmen-Platz

Verbunden mit einer unverhohlenen Faszination für Mao - selbst noch, als der Massenmörder ihm schon als seniler Greis gegenüber saß - kommt ein übler Nachgeschmack angesichts dieser Gleichgültigkeit eines Mannes auf, der immerhin sogar Träger des Friedensnobelpreises ist. Doch wer wie Kissinger zum Beispiel seine Finger auch beim Putsch in Chile im Spiel hatte, bei dem 1973 der demokratisch gewählte Präsident Allende ermordet und ein langjähriges Unrechtsregime installiert wurde, dem ist das "Machbare" als geordnete staatliche Machtausübung ganz offensichtlich ungleich wichtiger als unberechenbare Demokratiebewegungen.

Fazit: Henry Kissinger schildert Politik, wie sie war und nur teils noch ist, seinen Prognosen jedoch haftet etwas Naives an in seiner Bewunderung des Riesenreiches, wie er es über Jahrzehnte kennengelernt hat. So kann dieses Werk begeistern mit der Selbstdarstellung des Autors als Mitwirkender in weltpolitischen Weichenstellungen von größter Bedeutung und es kredenzt eine fundierte Wissensgrundlage. Ob es aber als Wegweiser im quasi-dualen globalen Spiel der Weltmächte USA und China nach dem Zerfall des Ostblocks taugt, muss füglich bezweifelt werden.

 

# Henry Kissinger: China. Zwischen Tradition und Herausforderung (aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Helmut Ettinger, Oliver Grasmück, Norbert Juraschitz, Michael Müller); 606 Seiten, div. Abb.; C. Bertelsmann Verlag, München; € 26

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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