ALLY CONDIE: "DIE AUSWAHL - CASSIA & KY"

"Nie zuvor ist eine Gesellschaft der Perfektion so nahe gekommen." Darauf sind die Menschen von Oria stolz und sie vertrauen auf "Die Gesellschaft", die alles regelt, Krankheiten so gut wie ausgerottet hat, ein langes ebenso ruhiges wie sorgenfreies Leben garantiert.

Auch Cassia Maria Reyes vertraut der Gesellschaft und selbstverständlich auch dem, was ihr gerade bevorsteht: auch sie wird jetzt zu ihrem 17. Geburtstag den jungen Mann kennenlernen, den sie dann mit 21 heiratet. Die Gesellschaft hat ihn nach den genetisch idealen Voraussetzungen ausgesucht. Damit beginnt "Die Auswahl - Cassia & Ky", Auftakt von Ally Condies Zukunftstrilogie einer vermeintlich heilen Welt.

Natürlich ist Cassia sehr gespannt auf den ihr zugeteilten Partner. Als jedoch ihr langjähriger Jugendfreund Xander aus der Nachbarschaft als der Ausgewählte vorgestellt wird, ist sie begeistert, denn so etwas gilt als sehr ungewöhnlich. Aber ein Zufall ist es nicht, denn Zufälle gibt es dieser Gesellschaft nicht. Fast erscheint es Cassia überflüssig, als sie den obligatorischen Chip mit den persönlichen Informationen über Xander bekommt, denn sie kennen einander mindestens so gut, wie die Gesellschaft sie kennt.

Um so mehr verwirrt sie, als auf ihrem Monitor nur kurz Xanders Foto erscheint und dann vom Gesicht Kys ersetzt wird, einem Jungen ebenfalls aus ihrer Nachbarschaft. Auch ihn kennt sie seit Jahren, allerdings umgibt ihn etwas Geheimnisvolles, denn von seiner Vergangenheit weiß man nur, dass er von seinem Onkel adoptiert wurde, nachdem seine Eltern in den Äußeren Provinzen ums Leben kamen.

Doch Cassia Funktionärin - jeder Bürger dieses absoluten Fürsorgesystems hat seinen Funktionär - sorgt für einen Chip-Wechsel. Und sie macht Cassia zweierlei klar: die Gesellschaft macht keine Fehler und Ky könnte gar nicht in den Bestand der Paarungswilligen aufgenommen werden, da er eine Aberration ist, also gewissermaßen genetisch abweicht von den Qualitätsnormen der Gesellschaft. Im Übrigen habe die Gesellschaft die Dinge stets unter Kontrolle.

Dennoch beginnt eine Annäherung zwischen Cassia und Ky und sie geht einher mit ersten Zweifeln der bisher so systemkonformen 17-Jährigen. Warum gibt es nur 100 ausgewählte Lieder, Gemälde, Geschichten, warum ist alles Vergangene ausradiert? Und selbst die sogenannten Artefakte, die wenigen alten Erinnerungsstücke in Privatbesitz, sollen jetzt ins Museum abgegeben werden, weil ihr Besitz die Ungleicheit zwischen den Bürgern verstärkt. Durch Ky aber lernt Cassia nun sogar heimlich das handschriftliche Schreiben, das die Gesellschaft längst unterbunden hat. Wodurch sie zum ersten Mal in ihrem Leben erkennt, "wie man etwas erschafft".

Während das so perfekte Bild der Gesellschaft allmählich immer mehr Flecken und Risse für Cassia bekommt, erlebt sie den organisierten Todestag ihres geliebten Großvaters mit. Wie für alle Bürger erfolgt auch für ihn am 80. Geburtstag der Euthanasie-Tod - hier eine Szene, die tief unter die Haut geht. Und Folgen hat, denn in dem Artefakt, den er ihr hinterlässt, hat der Großvater etwas streng Verbotenes versteckt: zwei aufwühlende Gedichte, die selbstverständlich nicht zum Kanon der Hundert gehören.

Dann erlebt Cassia einen Aufruhr, in dem Ky von Funktionären fortgebracht wird. Um Folgewirkungen zu vermeiden, ordnen sie für alle Augenzeugen die Einnahme der Notfallpillen an, die jeder Bürger immer mit sich tragen muss. Hier allerdings sollen sie die rote nehmen, deren Wirkung von Gerüchten umrankt ist - tatsächlich löscht sie die Erinnerungen an Geschehenes aus. Cassia kann nicht nur die Einnahme der Pille austricksen, sie erfährt noch Heikleres und ihre ganzes Bestreben geht nur noch danach, in jene Äußeren Provinzen zu gelangen, wohin sie Ky gebracht haben und wo "irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung ist".

Damit wird der Leser voller Spannung in die Wartezeit auf den nächsten Teil entlassen. Und diese Spannung ist um so überraschender, denn trotz eines ruhigen Erzählflusses und relativ wenig 'Action' entwickelt dieser Roman eine Sogwirkung, der man sich schon bald nicht mehr entziehen kann. Dabei erfährt der Leser alles nur aus dem Bericht der Ich-Erzählerin Cassia, was die anfängliche Naivität gegenüber diesem ebenso segensreichen wie infamen System der alles beherrschenden "Gesellschaft" um so verständlicher macht.

Eine Jugendromanze mit einer komplexen Dreierbeziehung ist dieser Roman natürlich auch, vor allem aber ein meisterhaft gelungener Science-Fiction-Roman mit dem Musterbeispiel einer Dystopie. Da erinnert einiges an Ray Bradburys Klassiker "Fahrenheit 451", zugleich begeistern neben den beeindruckenden gesellschaftlichen Konstellationen besonders die subtilen Charakterzeichnungen. Fazit: ein ganz starkes Stück Literatur - kritisch, philosophisch, fesselnd, und das nicht nur für jugendliche Leser ab etwa 15 Jahren.

 

# Ally Condie: Die Auswahl - Cassia & Ky (aus dem Amerikanischen von Stefanie Schäfer); 453 Seiten; Fischer Jugendbuch, Frankfurt; € 16,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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