MARCEL MATHIOT: „DIE EROTISCHEN ABENTEUER DES MONSIEUR MATHIOT"

Als Marcel Mathiots Ehefrau Mamie am 23. Januar 2000 nach fast 68-jähriger Ehe stirbt, trauert der 89-Jährige zwar, zugleich fühlt er sich jedoch nicht als Witwer sondern wieder als Junggeselle. Und er versinkt nicht in Altersapathie sondern – entwickelt ein reges Liebesleben, das bis zu vier Frauen zugleich beflügeln!

Wenn nun diese von ihm genossenen nächsten fast vier Jahre unter dem Titel „Die erotischen Abenteuer des Monsieur Mathiot" beschrieben werden, mag man an einen etwas fragwürdigen Pornoroman oder eine schräge Schelmengeschichte glauben. Der Titel jedoch ist ein marktschreierischer Fehlgriff, während der Untertitel „Bekenntnisse eines späten Liebenden" dem tatsächlichen Inhalt viel mehr gerecht wird. Vor allem aber: dies ist kein Roman, denn alles, was wir lesen, hat Marcel Mathiot (1910-2004) über 77 Jahre lang in insgesamt 150 Heften niedergeschrieben.

Die Kinder Mathiots übergaben die in der Hinterlassenschaft in sechs Schukartons gehorteten Niederschriften an Claire Hauter und Bernard Fillaire. Als Herausgeber belegen die Beiden die Echtheit der Autorenschaft mit zahlreichen Fotos Mathiots, der als Grundschuldirektor, Gemeinderat und zeitweiliger stellvertretender Bürgermeister seines Provinzstädtchens durchaus ein Mann von lokaler Bekanntheit war. Obendrein ist die letzte Seite des letzten Tagebuchs im Original abgedruckt. Aber auch der Verdacht, der alte Mann habe sich etwas zusammenfantasiert, geht fehl, denn er hat nie beabsichtigt, irgendetwas davon zu veröffentlichen.

Wäre das nicht dennoch geschehen, wäre der Nachwelt ein einzigartiger Schatz entgangen, denn Mathiot war ein außergewöhnlicher Zeitgenosse. Er erzählt mit Charme, Esprit und einer gesunden Prise Selbstironie von einem interessanten Leben, dessen intensive Prägung durch sein Liebesleben in den späten Jahren eine faszinierende Steigerung erfährt: „Entgegen der allgemeinen Meinung und entgegen meinen eigenen Erwartungen hat meine Manneskraft zugenommen." Dennoch wird das, was er über diesen, wenige Wochen nach dem Tod Mamies einsetzenden Altershöhenflug niederschreibt, kein bisschen exhibitionistisch, wenn er offen über die körperliche Liebe im hohen Alter spricht.

Mögen seine lebenslange große Liebe Hélène und die ihn schon lange anhimmelnde kluge Lili auch nicht die heftigen Sexpartnerinnen sein, so spielt die sieben Jahre jüngere Mado eine ganz intensive Rolle als Geliebte. Schon immer vibrierten in ihrer bereits seit 1946 mit Unterbrechung laufenden Beziehung Leidenschaft und Sinnlichkeit, doch nun mit der neuen Freiheit muss Mathiot sich zwischendurch Auszeiten nehmen, denn das genossene Pensum wäre durchaus eines halb so alten Mannes würdig. Und das ganz ohne Hilfsmittel.

Kein Wunder, wenn er am 4. März 2000 den denkwürdigen Satz schreibt: „Welch ein kompliziertes Liebesleben mit 90 Jahren!" Womit er auch die parallelen Beziehungen meint, denn auch mit den beiden anderen Damen hält er ja innigen und nicht nur platonischen Kontakt. Zugleich bekennt er, dass er von ehelicher Treue nie viel hielt, zumal Mamie besitzergreifend, schwierig und eifersüchtig war: „Ich habe mich dafür gerächt, dass ich meine Freiheit der Ehe geopfert habe." Und im Gegensatz zu dem fast stets Frohgemuten verweigerte sie sich der Lebensfreude. Er aber kann selbst im Greisenalter sogar noch staunen, zum Beispiel über für ihn sensationelle Entdeckungen in erotischen Gefilden.

Schließlich ereilt den 90-Jährigen auch noch just jene Amour fou, die schon den alten Goethe in seinen Grundfesten erschütterte: die Liebe zu einer Frau im Enkelalter. Diese Emma ist 36, als sie einander begegnen und sie gesteht ihm nicht nur ihre Liebe, im Gegensatz zu Goethes vergeblichem Schmachten kommt es sogar zu einer kurzen Affäre. Die fast erwartungsgemäß endet. Um so hinreißender und anrührender liest sich einige Zeit später Mathiots Jubel, als er nach mehrmonatiger Krankheit der Welt der Altenheime wieder entfliehen und erneut allein leben kann.

Was all diese Aufzeichnungen jedoch endgültig zu einem großen, überzeugenden Werk werden lassen, sind die vielen Rückblicke auf wichtige oder auch nur schöne Ereignisse. Da werden die alten Tagebücher zu einem immer wieder beflügelnden Lebenselixier, das sich dabei nicht nur auf Jugenderlebnisse und das vielfältige Liebesleben beschränkt. Viel Zeitgeschichte findet sich hier und der Gnostiker und Pazifist macht sich auch Gedanken über Gott und die Welt. Und er findet eine Formel für sein privates Leben: „Es gibt Schlimmeres als allein sein, nämlich nicht allein sein zu können."

Schließlich das ebenso großartige wie bewegende Finale dieses Buches, wenn Marcel Mathiot bei klarem Verstand das allmähliche Ableben niederschreibt. Sein letzter Eintrag geschieht am 24. April 2004, zwei Tage vor seinem Tod. Und wollte man ein Fazit dieses Ausnahmewerkes ziehen, so braucht man nur Mathiots Sohn Jean zu zitieren: „Ich glaube, dass die Hefte meines Vaters eine Hymne an das Leben sind, ein wahrer Jungbrunnen."

 

# Marcel Mathiot: Die erotischen Abenteuer des Monsieur Mathiot. Bekenntnisse eines späten Liebenden (aus dem französischen von Xenia Osthelder und Andrea Spingler); 351 Seiten; Pendo Verlag, München; € 19,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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