CORY DOCTOROW: „LITTLE BROTHER"

Wenn der Science-Fiction-Autor Cory Doctorow seinen neuen Thriller „Little Brother" nennt, so ist die Nähe zu Orwells „Big Brother" unübersehbar. Was bei diesem hochexplosiven Roman aber die Nackenhaare zum Sträuben bringt, ist die erschreckende Aktualität mit dem sehr realen DHS als Feind der Freiheit. Man erinnere sich: diese Heimatschutzbehörde (Department of Homeland Security) wurde unter Präsident George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit weitreichenden poliziestaatlichen Befugnissen ausgestattet.

In dem Roman des kanadischen Internet-Experten haben Marcus Yallow, 17-jähriger Schüler in San Francisco und ein exzellenter Hacker, und seine drei gleichgesinnten Freunde das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Die Vier betreiben gerade einen spielerischen, übers Internet zu organisierenden Orientierungswettbewerb, als ganz in ihrer Nähe die Bay Bridge zwischen San Francisco und Oakland von Terroristen gesprengt wird. Es gibt über 4000 Tote und in der anschließenden Panik geraten die Jungs in die Fänge des DHS, dessen Truppen umgehend massiv ausgeschwärmt sind.

Die vier Jungen mit ihrem elektronischen Equipment sind natürlich höchst verdächtig und werden wie Schwerverbrecher verschleppt und verhört. Sie wissen nicht, wo sie sind und niemand verständigt die Familien, stattdessen werden sie gedemütigt und gepeinigt. Als sie nach Tagen freigelassen werden, fehlt Darryl, der bei der Festnahme verletzt wurde. Hobbyhacker Marcus hatte zwar das Glück, dass die aus ihm herausgepressten Passwörter nichts Verdächtiges ergeben haben, doch daheim ist sein Laptop manipuliert worden und viel schlimmer noch – frei nach dem Motto, dass jeder Bürger ein potentieller Terrorist ist, hat das DHS San Francisco im Namen der Sicherheit quasi zum Polizeistaat gemacht.

Dazu dienen unter anderem die nun flächendeckend eingesetzten RFID-Chips auf Tickets, Kreditkarten und vielem mehr. Mittels dieser „Radio Frequency ID" sowie den allgegenwärtigen Überwachungskameras kann nun jeder Bürger ständig geortet und beobachtet werden. Menschenrechte werden bei der Herrschaft des DHS entbehrlich. Doch Marcus begehrt auf gegen einen „Gulag Amerika" und erklärt der Heimatschutzbehörde den Krieg. Mit cleveren Ideen baut er das Kommunkationsnetzwerk Xnet zur Widerstandsbewegung auf. Er geht raffinierte Wege über die Xbox und das gegen Überwachung sichere Betriebssystem „ParanoidLinux".

Im Nu finden er und seine Freundin Ange Gleichgesinnte und mit einem RFID-Kloner gelingt ihnen ein erster Cybernet-Schlag gegen das DHS, indem sie dessen Überwachungssystem durch massenhafte Fehlalarme ins Schleudern bringen. Selbstredend bleibt die Sabotage nicht unbemerkt und die Xnet-Rebellen werden zu Terroristen erklärt. Während es spannende Diskussionen gibt, die in der Frage eines Schülers gipfeln: „Wie kann man die Freiheit schützen, wenn man die Verfassung außer Kraft setzt?", ilfiltriert das DHS nun das Xnet.

Marcus sieht sich nicht nur gezwungen, neue Weg mit neuen Technologien zu beschreiten, ihm ist auch klar, dass eine Rettung des Rechtsstaates nur noch durch die geballte Macht der Öffentlichkeit möglich ist. Einerseits gelingt es ihm zwar, in der unabhängigen Journalistin Barbara Stratford eine clevere Mitstreiterin zu gewinnen, doch die nächste übers Netz initiierte friedliche Widerstandsaktion wird gnadenlos vom DHS niedergemacht und auch Marcus landet erneut in dem auf Treasure Island mitten in der Oakland-Bay eingerichten „Guantanamo-in-der-Bucht".

Wie im kubanischen Original geht es hier zu und die sehr plastiscche Schilderung lässt schaudern, wenn Marcus mit dem berüchtigten Waterboarding gefoltert wird. Das Finale wird hochdramatisch, wie dieser packend geschriebene Roman ohnehin durchweg absolut filmreif ist. Und Cory Doctorow versteht es nicht nur, bis zuletzt zu fesseln, er versteht auch, die Feinheiten der großenteils bereits real existierenden Zukunftstechnologien zu erläutern. Wobei er ganz nebenher vor den rapide zunehmenden Gefahren einer RFID-gesteuerten Welt warnt.

Fast könnte man meinen, das Ende des Romans, bei dem die Bill of Rights mit ihren unveräußerlichen Menschenrechten über die Polizeistaatsambitionen des DHS triumphiert, wäre zu optimistisch geraten. Aber man staunt ja immer wieder über diese US-Schizophrenie, wenn die Sicherheitsparanoia erst immer mehr Rechte des Einzelnen vernichtet und dann in einem großen Umschwung die Demokratie doch wieder obsiegt.

Allerdings – der Satz „Sobald wir nicht mehr frei sind, haben die Terroristen gewonnen" gilt nicht nur für die USA sondern für die gesamte freie Welt. Auch deshalb ist dieses bereits vielfach preisgekrönte Buch eines der wichtigsten der Gegenwart und nicht nur für Leser ab etwa 15 Jahren geradezu eine Pflichtlektüre.

 

# Cory Doctorow: Little Brother (aus dem Englischen Uwe-Michael Gutzschhahn); 492 Seiten, Paperback; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 14,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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