TORSTEN KROL: „KLEINE KANNIBALEN"

Erich Linden ist 16, als er mit Mutter Helga und dem leicht zurückgebliebenen Bruder Zeppi auf einem Frachter nach Venezuela übersiedelt. Man schreibt das Jahr 1946, der Vater ist in Russland gefallen und hat Erich nichts als das Eiserne Kreuz hinterlassen, das der Führer dem Panzerfahrer angeblich persönlich überreicht hat. Im fernen Südamerika soll nun ein neues Leben beginnen, für das Vaters Bruder Klaus sorgen will. Der angesehene Arzt wird die Schwägerin heiraten und die Jungs als die Seinen in eine bessere Zukunft führen.

Wer nun jedoch annimmt, dies könnte ein Familienroman oder der einer Jügend im Übergang zum Erwachsenwerden des Ich-Erzählers Erich sein, liegt völlig falsch, denn der Autor ist jener geheimnisumwobene Australier Torsten Krol. Der ist einerseits angeblich selbst dem Verlag von Person unbekannt und hat andererseits schon mit „Callisto oder die Kunst des Rasenmähens" bewiesen, dass er ebenso brillant wie bitterböse hintersinnige Geschichten zu erzählen weiß, die aberwitzig fabuliert und zugleich von erschreckend realem Wahrheitsgehalt sind. Dieser neue Roman heißt „Kleine Kannibalen" und er bleibt zunächst im Erzählton auf der intelligenten aber naiven Bewusstseinsebene des 16-Jährigen.

Onkel Klaus erweist sich als gewandter attraktiver Germane, der souverän auftritt, allerdings gleich mit zwei Überraschungen für etwas Verwirrung sorgt: es sei notwendig, künftig wegen gewisser Folgen der Nazi-Zeit den Familiennamen Brandt zu tragen, außerdem werde er nicht in der Stadt arbeiten sondern für eine große Erdölfirma im Amazonas-Gebiet. Dennoch bewundert Erich den neuen Stiefvater, dessen nationalsozialistische Ariergesinnung er als aufrechter Spross der Hitler-Jugend durchaus teilt – schließlich ist er damit aufgewachsen.

Der Weg in das neue Leben nimmt jedoch umgehend einen radikale Wendung, als sie zu der Erdölexploration fliegen und bei einem Tropengewitter auf einem Fluss mitten im Urwald notlanden müssen. Nur die Vier überleben und das einzige, das sie außer der Kleidung retten können, ist Klaus' Arztkoffer. Völlig von jeder Zivilisation abgeschnitten, werden sie alsbald von Eingeborenen aufgegriffen, nackten Wilden des Stammes der Yayomi. Was bis hierher die fast banale Erzählung eines lebensunerfahrenen Jünglings war, wechselt nun zunehmend in packende Dimensionen, denn jetzt entwickeln sich die immer interessanter werden Charaktere. Zugleich fesselt der Gegensatz zwischen den in ihrem Arierdünkel verhafteten Wesen aus einer anderen Welt und der archaisch-mythischen Lebensweise der Eingeborenen. Dabei fasziniert ein ums andere Mal das Aufeinanderprallen der Herrenmenschenattitüde des Arztes, der sich immer offener zu seiner Vergangenheit als SS-Mann bekennt.

Die weitgehende Unantastbarkeit der Vier jedoch wird zumindest vorläufig gerade durch die besonderen Geistervorstellungen der Yayomi gwährleistet. Ihr Medizinmann Noroni sah vier Delfinwesen kommen und wusste Ort und Zeit ihres Erscheinen (weshalb der Roman im Original auch zutreffenbder „The Dolphin People" heißt). Bei der Verständigung wie überhaupt für den gesamten weiteren Verlauf spielt dann eine außergewöhnliche Figur eine Schlüsselrolle im Sinne des Wortes: Professor Gerhard Wentzler, Ethnologe und seit elf Jahren als Gast bei dem Stamm lebend. Der Grund für seine Akzeptanz als ansonsten quasi unnützer Fresser, der nichts durch Jagen und Fischen zum Lebensunterhalt der fest geregelten Gemeinschaft beiträgt: sie erfreuen sich an seinen für Yayomi-Zecke umgemodelten deutschen Märchen.

Die Aussichten auf Hilfe von Außen oder ein baldiges Entkommen sind gleich Null, also ist Anpassung gefordert. Während Herrenmensch Klaus sich stattdessen absondert, erweist sich Mutter Helga in ihrem christlich-arischen Dünkel am verbohrtesten. Ihre Verweigerung der allgemeinen Nacktheit und der gemeinschaftlichen Bäder im Fluss steigern sich bis zur Verrücktheit, wenn sie nur noch betet und sogar darauf beharrt, Ehemann Heinrich werde sie retten und die Ehe mit Schwager Klaus sei sowieso ungültig.

Während Erich nicht nur die Kleider ablegt und sich das Jagen mit Blasrohr und Fischspeer beibriungen lässt, sondern auch noch mit Awomay, der Tochter des Medizinmannes anbandelt, entwickelt sich für ihn und Zeppi das Leben im großen Gemeinschaftshaus erträglich. Bis eine neue Gefahr auftaucht: Häuptling Manokwo hat eine Auge auf Helga geworfen und erhebt Ansprüche auf sie, da Klaus und Helga offensichtlich keinen Sex miteinander haben. Klaus gibt die Abgedrehte auf und entlarvt sich zugleich gegenüber Wentzler immer mehr als einer jener barbarischen KZ-Ärzte, bedauert sogar, dass die Amerikaner die Vollendung des „Programms zur Säuberung des Kontinents von minderwertigem jüdischem Blut" verhindert haben. Und er muss etwas Empörendes innerhalb seiner Familie feststellen – dem knapp 13-jährigen Zeppi wachsen Brüste! Statt arischer Zukunft also entwartete Erbanlagen.

Die Lage spitzt sich zu und weder Wentzlers raffinierte Lügengeschichten noch die scheinbar magischen Kräfte der Weißen können noch viel länger das Überleben der Fremdlinge sichern. Sie machen deshalb Pläne für eine Flucht, denen jedoch dramatische Zwischenfälle in die Quere kommen. Ein gigantisches Tropengewitter sorgt dann für eine abenteuerliche Wendung und einmal mehr erweist sich der gewitzte Wissenschaftler als überlebenswichtiges Bindeglied zu den Yayomi, offenbart aber auch noch ein frappierendes Geheimnis.

Mehr sei von dem oft genug atemberaubenden Geschehen nicht verraten. Das besticht sowohl durch die sehr real beschriebene exotische Welt wie auch durch diesen hinreißenden Gegensatz zwischen arisch-faschistisch verstärktem Zivilisationsdünkel und der archaischen Lebensweise der unverfälschten Eingeborenen, der manch beißende Ironie in sich birgt. Fazit: ein grandioses Buch, das zuweilen an Werner-Herzog-Filme erinnert, doch selbst er könnte diesen aberwitzigen Roman wohl kaum verfilmen. Zartbesaiteten ist der Roman allerdings nicht zu empfehlen, denn manche Beschreibungen sind ebenso realistisch wie drastisch.

 

 

# Torsten Krol: Kleine Kannibalen (aus dem Englischen von Gunnar Kwisinski); 432 Seiten; Karl Blessing Verlag, München; € 22,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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