RICHARD OVERY: „DIE LETZTEN ZEHN TAGE"

Was geschah in den letzten Tagen vor dem deutschen Überfall auf Polen und in den Tagen, bis durch die britische und französische Kriegserklärung am 3. September 1939 daraus ein europäischer und dann der Zweite Weltkrieg wurde? Richard Overy, Professor für Neue Geschichte an der Universität von Exeter, legt dazu ein brillantes kleines Buch vor, das die fieberhaften politischen Aktivitäten in London, Paris, Berlin und Warschau sowie zwischen den Mächten plastisch macht.

Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs" lautete der Titel und der durch etliche Werke zur Geschichte unseres Kontinents zwischen 1914 und 1945 renommierte britische Historiker versteht es glänzend, hinter die Bürotüren der maßgeblichen Protagonisten zu schauen. Greifbar werden die Qualen des zu Unrecht als Abwiegler gescholtenen Premiers Chamberlain, der schon 1938 um den Erhalt des Friedens mit Hitler gerungen hatte. Seine Apeasement-Politik entsprang nicht der Schwäche sondern der Erinnerung an die Leiden des Ersten Weltkriegs.

In Frankreich dagegen wirkte unter anderem ein grundsätzlicher Meinungsgegensatz zwischen Premier Daladier und dessen Außenminister Bonnet lähmend auf die Entscheidungsfindung, wogegen Hitlers Haltung insbesondere gegenüber den Briten als gewissermaßen desinteressiert gekennzeichnet wird. Er will zwar keinen großen europäischen Krieg, nimmt ihn jedoch in Kauf. Gleichwohl zeigen die detaillierten Zeugenaussagen, wie versteinert er auf die Kriegserklärungen reagierte.

Overy führt mit gekonnt ausgewählten und außerordentlich lebendig und spannend dargelegten Einzelheiten hinein in das Ringen der Regierungen, das auf allen Seiten auch von bedeutsamen Fehleinschätzungen geprägt war. So bewirkt die Unterzeichnung des englisch-polnischen Beistandspaktes vom 24. August eine seltene Verunsicherung Hitlers, die ihn tatsächlich von Angriffstermin auf Polen am 26. August zurückweichen lässt. Die Unausweichlichkeit des Kriegsausbruchs belegen dann jedoch die folgenden Tage, in denen Europa in einem hochexplosiven Schwebezustand vibriert, bis Hitler den Frieden am 1. September endgültig bricht, zumal er nicht glauben mag, dass Briten und Franzosen wirklich bereit sind, für Polen zu sterben.

Overys Ausführungen sind Geschichtskunde vom Feinsten und offenbaren obendrein den ein oder anderen wenig bekannten Aspekt, sei es bezüglich persönlicher Verhaltensweisen, sei es mit dem atemberaubenden Blickwinkel aus dem Geschehen heraus statt aus der heutigen Kennerschaft. Passend zum 70. Jahrestag des Kriegsbeginns ist dies für jeden geschichtlich Interessierten eine hochspannende Lektüre.

 

# Richard Overy: Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs (aus dem Englischen von Klaus Binder); 160 Seiten, Klappenbroschur; Pantheon Verlag, München; € 12,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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