CAROLINA de ROBERTIS: „DIE UNSICHTBAREN STIMMEN"

Es beginnt mit einem Wunder: hoch aus einem Baum fällt ein kleines Mädchen. Das geschieht Anfang des letzten Jahrhunderts in einem verschlafenen Nest am Rio Negro und später verschlägt es dieses Mädchen, dessen Herkunft niemand kennt, unter dem Namen Pajarita nach Montevideo. Hier in der Hauptstadt Uruguays spielt auch der größte Teil des Romans „Die unsichtbaren Stimmen" der US-Autoin Carolina de Robertis, deren Vorfahren ebenfalls von dort stammen.

Mit Pajarita beginnt ein Epos über 90 Jahre Geschichte am Rio de la Plata, dargestellt mit dem Leben dreier starker Frauen, die vom unbändigen Drang zu einem selbstbstimmten Leben geprägt sind. Pajarita ist die Urmutter, die in der sich stürmisch entwickelnden Metropole vier Kinder allein großzieht, trotz der großen Liebe, die sie in dem aus Italien eingewanderten Gondelbauer Ignazio findet. Der verschwindet nach einem bösen Zwischenfall, denn auch er hat eine eigene, vorbelastete Geschichte, die jedoch bei aller Farbigkeit nur wenig Platz erhält. Um so wichtiger ist Pajaritas gesamte Vita, wie sie Höhen und viele Tiefen durchlebt und bis zum Ende des Romans stets eine Zuflucht für ihre Lieben bleibt.

Fast so stark wie sie ist dann Tochter Eva, obwohl ihr Weg dahin wahrlich ein schwerer ist, denn sie durchleidet Zeiten von Kinderarbeit und sogar Missbrauch, der ihr psychisch sehr zusetzt. Bis sie sich nach Argentinien absetzt, Ehemann eines Arztes wird und ein Leben der gehobenen Klasse genießen darf. Doch Eva entwickelt aus ihrer Vergangenheit auch eine hohe Dichtkunst. Zugleich lebt die Familie im Argentinien der Peron-Zeit, wo ihr die legendäre Evita persönlich begegnet. Doch die Peronisten waren bekanntlich keine Lichtgestalten der Demokratie und es kommt soweit, dass Eva 1951 bei Nacht und Nebel mit Mann und den beiden Kindern nach Montevideo flüchten muss, wo auch ihr weiteres Leben von herben Schlägen begleitet wird.

Zugleich wächst dort Tochter Salomé auf, auch sie ein starker, eigenwilliger Charakter. Und ihr Schicksal ist das düsterste der drei Frauen, denn sie ist von einem naivem Idealismus beseelt und just in ihre Jugend fällt der fatale Wandel, als Uruguay als langjährige Muster-Demokratie Lateinamerikas seine Tugenden verrät und sogar für viele Jahre zur finsteren Militärdiktatur wird – mit Unterstützung der USA gegen Umtriebe eines Che Guevara. Salomé schließt sich als Freiheitskämpferin den Tupamaros an, wird erwischt und durchleidet eine schier endlose Zeit übelster Haft.

Man spürt, dass die Autorin eine Verehrerin des großen Gabriel Garcia Marquez ist und auch sie schwelgt in ihrem emotional brodelnden Erzählstil im unaufhörlich mitreißenden magischen Realismus, der zugleich an Isabel Allende erinnert. Das ist voller Farbe, voller opulenter Bilder und zugleich lebt es von dem hervorragend recherchierten Zeit- und Lokalkolorit vor stets realem historischem Hintergrund. Und es sind diese Ingredienzen, die den spannenden Reigen um das Leben dreier starker Frauen auch für männliche Leser zu einem echten Lesevergnügen machen.

 

# Carolina de Robertis: Die unsichtbaren Stimmen (aus dem Englischen von Adelheid Zöfel u. Cornelia Krüger-von der Tann); 462 Seiten; Krüger Verlag, Frankfurt; 16,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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