LOUISE ERDRICH: „SOLANGE DU LEBST"

Es ist nur eine kurze Einleitung, die ein unfassbares Verbrechen andeutet, dem bald ein zweites folgt: eine weiße Farmerfamilie wird 1911 in der Nähe der Kleinstadt Pluto am Rande des Chippewa-Reservats in North Dakota ermordet und kurz darauf lyncht ein weißer Mob die unglücklichen Entdecker der Bluttat, drei junge Indianer. Nur einer von ihnen, Mooshum Milk, überlebt auf mystriöse Weise. Noch zwei Generationen später lastet das zweifache Verbrechen auf der Stadt und dem Reservat, denn irgendwie haben sich längst die Erbmerkmale von Tätern und Opfern auf vielfältige Weise miteinander verflochten.

Davon erzählt nun Louise Erdrichs jüngster Roman „Solange du lebst" und man spürt einmal mehr ihren eigenen Ursprung von den Ureinwohnern Amerikas durch ihre Mutter vom Stamm der Chippewa. Und die Erfolgsautorin fesselt erneut mit ihrer hinreißenden Art des Fabulierens, das sie nun vier eindrucksvollen Erzählern überlasst. Den Reigen eröffnet als Haupterzählerin Evelina Harp, die Enkelin Mooshums, die Skurriles von dem Alten erfährt. Insgesamt jedoch erscheinen die bescheidenen Bürger Plutos von Rechtschaffenheit geprägt zu sein, wogegen sich erst allmählich erweist, dass sie eine Menge Leichen im Keller haben, und das nicht nur wegen der schlimmen Ereignisse von 1911. Die zu erwähnen man ohnehin tunlichst vermeidet.

Die sehr unetrschiedlichen Berichterstatter legen nun einen komplexen Teppich an Schilderungen aus, deren enge Verbindung sich erst gegen Ende all der Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart offenbart. Wenn da Nebenschauplätze eröffnet werden oder Personen nur kurz auftauchen, um ein prägendes Ereignis auszulösen, so darf man gespannt darauf sein, was es von Bedeutung für anderes wird, denn diese Autorin vergeudet keine Erzählstränge, sondern behält sie souverän im Blick. Und all die Querverbindungen zwischen den Personen, vor allem aber die subtilen oder auch offenen Spannungen zwischen den Indianern und ihren vermischten Abkommen und den Weißen, jedoch ebenso jene zwischen Einwanderergruppierungen, die einander nicht sonderlich grün sind, schaffen eine Athmosphäre der Klaustrophobie, aus der nur Fortgehen helfen könnte.

Es sind teils harsche, teils emotionsgeladene Begebenheiten, deren Zusammenspiel erst später erkennbar wird. Manche von ihnen sind von Schmerz und Tragik durchsetzt, andere von geradezu archaischer Wucht wie das Aufeinanderprallen christlicher Glaubensvertreter mit denen des alten Indianerglaubens oder einer Hassliebesgeschichte mit ungewöhnlichen erotischen Szenen. Stets wird aus einer anderen Perspektive erzählt und die Autorin lässt neben viel Ironie auch trockenen, zuweilen sogar schwarzen Humor aufleuchten. Ein ungewöhnlich farbenprächtiges Bild verdichtet sich und überrascht mit hinreißenden Wendungen. Oder Kapriolen, wenn die friedenssymbolischen Tauben zur üblen Plage werden oder freundlich-emsige Bienen zu Killern mutieren.

Niemand in diesem ebenso schillernden wie realistischen kleinen Kosmos kann den Schatten der Vergangenheit entkommen und wenn dann nach so viel gewaltiger Prosa, die immer wieder von rauer Poesie durchsetzt und hervorragend ins Deutsche übertragen worden ist, das bewegende Finale einsetzt, schwebt es wie ein letzter unbewusster Atemzug zum gedankenverlorenen Schlussakkord – ein grandioses Gemälde ist vollendet und bleibt für die Ewigkeit. Fazit: mit diesem Meisterwerk von magischem Realismus hat sich Louise Erdrich endgültig in die Gilde der Anwärter auf einen seit langem überfälligen Literatur-Nobelpreis für einen US-Autor eingereiht.

 

# Louise Erdrich: Solange du lebst (aus dem Amerikanischen von Christ Hirte); 397 Seiten; Insel Verlag, Frankfurt; € 22,80

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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