CHRISTOPHER CLARK: „WILHELM II."

Nach seinem brillanten Werk über den Staat Preußen liegt nun ein weiteres Meisterwerk des in Cambridge lehrenden australischen Historikers Christopher Clark vor, in dem dieser sich der Entdämonisierung des selbst von vielen Wissenschaftlern als Auslöser der großen Katastrophe des 20. Jahrhunderts gebrandmarkten Monarchen widmet: „Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers".

Im Vorwort zur deutschen Ausgabe betont Clark, dass es ihm nicht um eine Rehabilitierung ging, doch wolle er „Verunglimpfung und Verständnis wieder in die richtige Balance bringen". Dazu zeigt er zunächst die bereits mitprägende Problematik des jungen Wilhelm auf, der zwischen dem regierenden erzkonservativen Großvater Wilhelm I. - ab 1862 preußischer König und ab 1871 Deutscher Kaiser – und seinem liberalen Vater Friedrich Wilhelm hin- und hergerissen war und sich bald ganz dem im alten Denken verhafteten Flügel zuwandte.

Andererseits führte die von der anglophilen Mutter geförderte Schulerziehung dazu, dass Wilhelm ein militärischer Dilettant blieb, was seine Rolle im späteren Weltkrieg zusätzlich belasten sollte. Vorerst aber verstärkten die zunehmenden Gegensätze zwischen ihm und seinen Eltern die Entwicklung seiner wankelmütigen, narzisstischen und zugleich überempfindlichen und nach Anerkennung lechzenden Persönlichkeit. Als Wilhelm 1888 nach dem 99-Tage-Interregnum seines krebskranken Vaters auf den Thron gelangt, ist die Stellung des deutschen Kaisers verfassungsmäßig weniger stark, als dem 29-Jährigen bewusst ist, doch dem nach persönlicher Machtausübung gierenden politischen Schüler des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck gelingt bereits 1892 das einzige wirkliche politische Kunststück seiner Regentschaft, als er den scheinbar allmächtigen Eisernen Kanzler in den Rücktritt treibt.

Ansonsten aber, belegt Clark, stieß der Kaiser zwar manche Neuerung an und gewann zum Beispiel Popularität beim Volk dank seiner Arbeitergesetze, scheiterte jedoch noch viel häufiger. Schuld war dabei einerseits das politische System des Reichs, das er gleichwohl ebenso wenig änderte wie die zersplitterte militärische Kommandostruktur. Immer wieder war es aber auch die Sprunghaftigkeit des impulsiven Herrschers, die ihm sogar den Spitznamen „Wilhelm der Plötzliche" einbrachte. Der Biograf kommt denn auch zu dem mit zwingenden Beispielen belegten Schluss, dass Wilhelm von der Fülle der Funktionen und den Erfordernissen etlicher überfälliger Reformen schlichtweg überfordert war.

Der offensichtliche Mangel an Führungspersönlichkeit wie auch die nachgewiesenen Aktivitäten Wilhelms vor Kriegsausbruch 1914 widerlegen im Übrigen die verbreitete Ansicht vom Kaiser als Kriegstreiber – gerade Wilhelm bemühte sich in der Juli-Krise bis zuletzt um Frieden, wurde aber von der eigenen Regierung dabei desavouiert. Das galt noch krasser während des Krieges, in dem er nur theoretisch der Oberbefehlshaber war: „Ich rede ja so wenig rein wie möglich." Spätestens mit Beginn der faktischen Militärdiktatur durch die „siamesischen Zwillinge" Hindenburg und Ludendorff ab 1916 wurde Wilhelm zum hilflosen Spielball des politisch-militärischen Systems im Reich.

Doch selbst der für das langjährige Exil Wilhelms im holländischen Doorn immer wieder angeführte Antisemitismus und die nazi-freundliche Haltung Wilhelms führt Clark auf das wahre, eher unbedeutende Ausmaß zurück. Wie in den 30 Jahren seiner Herrschaft müsse man auch hier sehen, dass der vermeintliche Kriegsherr ein großspuriger Redner war, dessen Bild weit mehr von dem geprägt wurde, was er oft unbedacht sagte, als von dem, was er tat oder veranlasste.

Elegant geschrieben, relativiert der Historiker auf fundierte Weise das vermeintliche persönliche Regiment Wilhelms auf die Herrschaft eines allürenhaften, an den politischen Realitäten und erfordernissen scheiternden Monarchen. Fazit: ein hervorragender Beitrag zur Versachlichung der Geschichtsschreibung über eine der zentralen Figuren des 20. Jahrhunderts und zugleich ein spannendes Stück Literatur für Fachleute und interessierte Laien.

 

 

# Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers (aus dem Englischen von Norbart Juraschitz und Thomas Pfeiffer); 414 Seiten; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 24,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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