TIM BINDING: „CLIFFHANGER"

Wer bitterbösen tiefschwarzen Humor der britischen Art zu schätzen weiß, wird Tim Bindingers neuen Roman „Cliffhanger" als wahres Lesefest feiern. Im Mittelpunkt steht Al Greenwood, Taxiunternehmer in einer idyllischen Kleinstadt an der südenglischen Kanalküste mit ihren schroffen hohen Klippen.

Al geht es mittelprächtig, zu den wenigen Dingen, die er liebt, gehören seine beiden japanischen Karpfen. Ehefrau Audrey dagegen stört ihn schon lange und er ist skrupellos genug, sich ein ganz einfaches Ende ihrer unerfreulich gewordenen Ehe auszudenken. Als sie in der Abenddämmerung eines verregneten Sonntags einen ihrer typischen Spaziergänge zu den Klippen macht, gibt er ihr einen Schubs in den Rücken und sie stürzt lautlos in die Tiefe. Triumphierend kehrt er heim und ist wie vom Donner gerührt: da räkelt sich Audrey wohlgemut vor dem Kamin und genießt ein Fläschchen Champagner!

Und schon hat Al verdammt viele Probleme damit, Spuren zu verdecken, Zusammenhänge zu tarnen und sich gar nicht viel später ominöser Erpressungsversuche zu erwehren. Seltsamerweise scheint seine Ehe auf einmal wieder zu funktionieren, aber – wen hat er wirklich ins Jenseits befördert? Immer neue, oft bizarre Details wie eine schön polierte Granathülse als Wohnzimmerschmuck oder ein Weisheitszahn in einem Spitzentaschentuch tauchen auf, derweil sich Al zwar mit viel Skrupellosigkeit gegen alle Anfechtungen wehrt, aber dennoch tiefer im eigenen Lügennetz verheddert.

Dabei sind seine Gegenspieler wie überhaupt die Leute in der Kleinstadt herrlich verschrobene Typen. Alle tragen wie die vermeintliche Audrey an der Klippe gelbe Regenmäntel und haben so ihre Geheimnisse. Der Eine hat spezielle Neigungen, der Andere den falschen Durchblick, oder wie Al selbst eine heimliche uneheliche Tochter, um die er sich sehr sorgt. Wie er dann um das Davonkommen kämpft, mit raubeinigen Methoden aber auch so manchem melancholischen Moment, in denen der Ich-Erzähler den Leser zum Vertrauten macht, da wächst er einem fast ans Herz in seinem immer aussichtsloser werdenden Strampeln. Ein ganz klein bisschen jedenfalls.

Die groteske Geschichte ist jedoch bei aller Skurrilität nicht nur spannend und tief abgründig, sie mündet auch folgerichtig in ein chaotisches Finale mit allerlei deftigen Überraschungen, bis Al seine Strafe bekommt. Obwohl – die ist irgendwie ungerecht. Aber er gibt ja zum Schluss selbst zu, dass er ein Taugenichts ist. Fazit: eine bitterböse Tragikomödie und ein hinreißend verkommenes Lesevergnügen.

 

 

# Tim Binding: Cliffhanger (aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann); 350 Seiten; marebuchverlag, Hamburg; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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