WOLFGANG HILBIG: „WERKE 1: GEDICHTE"

Wolfgang Hilbig (1941-2007) war ein Arbeiter ohne akademische Ausbildung und dennoch darf man mit voller Berechtigung sagen, dass der Georg-Büchner-Preisträger von 2002 nicht nur ein großer Schriftsteller war, sondern als Lyriker der wohl größte deutsche Sprachzauberer der letzten Jahrzehnte.

Um so verdienstvoller ist es, dass der erste Band der siebenbändigen Werkausgabe sich unter dem Titel „Werke 1: Gedichte" dem unbändigen lyrischen Schaffen des Autodidakten widmet. Und das Buch wartet mit einer Sensation auf, denn es umfasst neben den 188 bereits bekannten Gedichten weitere 153 aus seinem Nachlass, die bisher unveröffentlicht waren. Darunter befindet sich auch jenes Frühwerk aus den 60er Jahren mit 53 Gedichten, die Hilbig mit „Scherben für damals und jetzt" überschrieben hatte. Sie galten als untergegangen, doch nun fand sich ein von der Stasi einst beschlagnahmtes und erst nach dem Zusammenbruch wieder in die Hände des Autors gelangtes Heft in der Hinterlassenschaft.

Schon diese frühen Verse offenbaren die Wortgewalt und die sprachliche Virtuosität des in der DDR niemalos anerkannten Poeten, der jedoch auch nach der Übersiedlung in den Westen 1985 ein Einsamer aus dunklen Gestaden blieb. Seine Lyrik erscheint ebenso elegant wie spröde, zuweilen verstörend, mit sperrigen, schwergewichtigen und oft rätselhaften Metaphern, die dennoch vollkommen überzeugen noch bevor das Ahnen zum Verstehen wird. So monolithisch die Wucht vieler der Gedichte auch daherkommt, sie steht im Gegensatz zu Hilbigs uneitlem und scheuem Auftreten in der Öffentlichkeit, was wohl maßgeblich sogenannten Starruhm verhinderte.

Dabei war er ein souveräner Meister, ob im Reim oder im majestätisch beherrschten freien Gedicht – die Sammlung macht deutlich, wie sehr dieser rauschhaft tiefsinnige und abgründige Verseschmied die vielen, auch vom Feuilleton oft viel zu hochgejubelten Jungstars der Lyrik wie ärmliche Lehrlinge aussehen lässt. Ein dunkler Zauber wohnt seinen starken, tief bewegenden Bildern inne und stets ist er einsam, ein Solitär: „Das schwarze Fleisch schied meinen müden Schatten aus..."

Neben den kurzen, knappen und doch nie bedeutungsarmen Versen stehen Großgedichte wie das mitreißende „Ophelia" von düsterer Magie. Und endlich erstmals in der vollständigen Fassung und wohl die Krönung seines lyrischen Schaffens das lange Poem „Prosa meiner Heimatstraße", eine einzigartige Philippika aus den Monaten des politischen Umbruchs in der DDR, fieberheiß und arktisch eisig, ebenso persönlich wie politisch, ebenso emotional wie von wuchtiger Schärfe des Gedankens. Doch Hilbig konnte auch mit betörend einfacher Klarheit ein ahnungsvolles Selbstbildnis zeichnen: „Oh ja, das ist ein wilder Reigen/wenn das vergeht/dann ist's zu spät/dann herrscht hier wieder Schweigen".

Nun schweigt „Der Einsiedler in der Nacht" - so der Titel des gesamten Gedichts – und es mag dauern, bis die überragende Bedeutung gerade seines lyrischen Werkes ins allgemeine Bewusstsein gelangt. Dieser Auftaktband der Werkausgabe ist ein wichtiger Grundstein dafür und ein ungemein bereicherndes Leseerlebnis sowieso.

 

# Wolfgang Hilbig: Werke 1: Gedichte; 538 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 22,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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