SUN SHUYUN: MAOS LANGER MARSCH"

Bis heute gilt der legendäre „Lange Marsch", aus dem Mao Zedong als unbestrittener Führer der Kommunistischen Partei hervorging, als Gründungs- und Heldenmythos des modernen China. Der unendlich entbehrungs- und verlustreiche Marsch, auf dem 1934/35 rund 200.000 Männer und Frauen rund 14.000 Kilometer durch das riesige Reich der Mitte zurücklegten, war für die Chinesen wie einst der Auszug des Volkes Israel aus Ägypten und – es gab kein Hinterfragen, inwieweit die offizielle Version die Wahrheit wiedergab.

Genau den ungestellten Fragen widmete sich jetzt jedoch die in London lebende Historikerin und Filmproduzentin Sun Shuyun mit ihrem Buch „Maos Langer Marsch. Mythos und Wahrheit". Ein Jahr folgte sie vor Ort den Spuren der Marschierer, von denen nur 40.000 ihr Ziel erreichten, und sie traf rund 40 der noch 500 lebenden Veteranen des Marsches. Und eines stand sehr bald fest: dass der Lange Marsch um einiges anders, vor allem aber ungleich leidvoller und gemeiner gewesen war, als der Große Vorsitzende Mao ihn glorreich gefärbt hatte.

Zu den wichtigsten nicht gestellten Fragen gehörte bis dato die, woher all die Scharen von vermeintlich kommunistischen Soldaten kamen, die sich dem Zug auf der Flucht vor Chiang Kaichecks Nationalisten-Armee anschlossen. Und wie versorgte sich eine solch große aber mittellose Armee? Und wie kamen jene vier Fünftel der Marschierer um, die das Ziel nie erreichten? Gerade diese Frage findet Antworten, die dem Mythos viel Glanz rauben, denn Zehntausende sind verhungert, erfroren oder schlichtweg desertiert.

Zugleich erhellt dieser Themenbereich die besondere Infamie des skrupellosen Machtmenschen Mao, der schon 1931 die erste mit großer Grausamkeit durchgeführte „Säuberung" gegen angeblich Anti-Bolschewisten in den eigenen Reihen befahl. Während des Marsches zunächst noch durchaus umstritten und zeitweise sogar weitgehend kaltgestellt, nutzte Mao die unglaublichen Strapazen des Langen Marsches unbarmherzig aus, um sämtliche Rivalen zu beseitigen und für den Rest seines Lebens seine unumschränkte Macht als KP-Führer zu zementieren.

Dabei gehört zur Wahrheit hinter der Legende auch, dass Mao nicht der große Militärstratege war, der nie eine Schlacht verlor, während er andererseits Siege feiern ließ, die nie stattgefunden hatten. Zugleich offenbaren die Recherchen der 1963 in China geborenen und noch ganz im allgegenwärtigen „Geist des Langen Marsches" aufgezogenen Autorin, dass es den vielen tausend teilnehmenden Frauen noch unmenschlicher erging als den Männern. Kinder wurden ihnen als störend abgenommen, oder die Frauen wurden durch die extremen Entbehrungen unfruchtbar oder den feindlichen Truppen überlassen.

Die persönlichen Schilderungen der Veteranen gerade zu diesen Gräueln und das unsägliche Elend, das sie durchlitten – was den Großen Vorsitzenden bekanntlich bis zuletzt völlig kalt ließ – zählen zu den bewegendsten Passagen dieses längst überfälligen Buches. Nicht zuletzt ist es auch eine Hommage an die unzähligen namenlosen Opfer, die in Niederlagen fielen, die Mao später ableugnete. Der Lange Marsch war unbestreitbar legendär, doch nun ist endlich auch konstantiert, wie zigtausendfach sein Mythos in Wahrheit durch Niedertracht und Barbarentum befleckt ist.

 

# Sun Shuyun: Maos Langer Marsch. Mythos und Wahrheit (aus dem Englischen von Henning Thies); 382 Seiten, div. Abb.; Propyläen Verlag, Berlin; € 22,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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