THOMAS PYNCHON: „GEGEN DEN TAG"

Thomas Pynchon überbietet sich selbst mit seinem neuen Großroman „Gegen den Tag", der mit gut 50 Protagonisten, mindestens drei Hauptsträngen und einer unglaublichen Reichhaltigkeit an Themen wie auch seiner Originalität nicht nur durch den schieren Umfang eine Herausforderung für jeden anspruchsvollen Leser ist.

Das Geschehen erstreckt sich bis in die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg und startet mit einem Flug mit dem Luftschiff „Inconvenience" zur Chicagoer Weltausstellung von 1893. Die Flugreisen kehren als einer der roten Fäden immer wieder und sind nicht nur in einer wunderbar altmodisch eleganten Sprache geschrieben, sondern dabei zudem in einem Abenteuerroman-Stil, als seien sie von einem Jules Verne auf dem Trip verfasst worden. Das eigentliche Herz des Romans aber ist die Geschichte einer Familienrache, die von Webb Traverse ausgeht, der in den Streiks der Minenarbeiter von Colorado zum anarchistischen Bomber wird.

Nachdem Scarsdale Webb, Mineneigner und Ultrakapitalist, ihn hat meucheln lassen, gehen seine Kinder auf einen Rachefeldzug mit seltsamen Ausfällen. Ohnehin fließt viel Gesellschaftskritik in das gesamte Werk ein, das aber auch Wissenschaftsgeschichte mit komplexen Abschweifungen bietet oder Science-Fiction-Abenteuer inklusive Einsprengseln von Zeitreisenden und mysteriösen waffen. Um dann wieder zur Hochform aufzulaufen beim dritten roten Faden, der vorrangig nach Europa führt und dort tief in jenen Abwärtsstrudel von brodelnden nationalistischen Gegensätzen gepaart mit der fatalen Mischung aus Inkompetenz und Wahnsinn bei den Herrschenden, die unausweichlich in den Ersten Weltkrieg und das moderne Grauen mündete, das den ersten Weltenbrand zum sinistren Vater des zweiten machte.

Diese atemberaubende Reise durch Raum und Geschichte hat großartig beschriebene Haltepunkte in New York, London, Venedig und Göttingen über Wien und den Balkan vor und während der Explosion bis nach Asien, Sibirien in der Zeit des Tunguska-Ereignisses und in der mexikanischen Revolution von 1910. Hollywood in der Stummfilm-Ära, ein Wahrsager, der seine Weisheiten aus der Kloschüssel holt, und erotische Szenen von teils drastischer Skurrilität – und das alles in einem Erzählfluss wie im Film und der Cutter ist ein Virtuose.

Das passt dann zu dieser Zeit rasanter technischer Fortschritte, bei denen der gelernte Ingenieur Pynchon die Elektrizität und das Fliegen in den Vordergrund stellt und zugleich mit Realem und Fantastereien jongliert. Kühl, intellektuell, überraschend aktuell und kühn im Politischen ist die überbordende Melange, deren Faszination aber erst durch den geistreich anarchischen Humor im Stile eines Groucho Marx (er findet sogar Erwähnung im Text!) sowie die brillanten Dialoge und immer neuen Überraschungen vollendet wird.

Manches in der Rätselhaftigkeit des Romans erinnert an James Joyces „Ulysses", während die grandiose Verknüpfung von Abenteuern vor historischem Hintergrund mit wissenschaftlichem Fortschritt eher Neal Stephensons ebenfalls ungeheuer voluminöser Barock-Trilogie ähnelt, wenn auch in einer anderen Epoche spielend. Fazit: man kann an diesem Opus Magnum entweder verzweifeln oder sich, mit Verlaub, besoffen dran lesen.

 

# Thomas Pynchon: Gegen den Tag (aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren); 1596 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek;

€ 29,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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