ANKA MUHLSTEIN: „DER BRAND VON MOSKAU"

Mit über 600.000 Soldaten überschritt Napoleon im Juni 1812 den Njemen, um Russland niederzuwerfen. Ein halbes Jahr später waren es noch 10.000, die den Grenzfluss demoralisiert überquerten. Es gibt reichlich Literatur über das katastrophale Abenteuer des vielleicht genialsten Feldherrn aller Zeiten, dennoch hat Anka Muhlstein mit ihrem Buch „Der Brand von Moskau. Napoleon in Russland" ein Werk wie keines zuvor geschaffen.

Die französische Historikerin schildert das Wahnsinnsunternehmen so plastisch und mit exzellent recherchierter Detailkenntnis unterlegt, dass noch vor der Beschreibung der ersten Schlacht überdeutlich wird, dass dieser Feldzug nicht gelingen kann. Vor allem, warum dies eine geradezu zwangsläufige Folge der Grundbedingungen ist. Obwohl Napoleon weiß, dass er sich von diesem Land nichts erhoffen darf und alles Notwendige mitbringen muss, weil es hier kaum Möglichkeiten gibt, sich aus eroberten Gebieten zu versorgen, unterschätzt er die Grenzenlosigkeit der menschenleeren Weite in gravierender Weise. Mangel an Pferden, Lebensmitteln und vielem anderen werden durch Wetterkapriolen mit Regen und Kälte noch verschlimmert. Noch vor der ersten Schlacht hat der Feldherr rund 30.000 Mann durch Krankheit und Desertion verloren.

Und Napoleon muss fassungslos erleben, dass ihm der Gegner die Chance zur Entfaltung seiner militärischen Genialität einfach vorenthält. Als er die russische Armee im Juli endlich vor Witebsk gestellt hat, entwischt sie ihm über Nacht so unbemerkt und gründlich, dass die Angreifer düpiert und ratlos sind. Genau darin offenbart sich ein Hauptgrund für Napoleons Scheitern: seine Gegenüber erweisen sich nämlich nicht aus Rafinesse als so fatal unberechenbar, sondern wegen einer Mischung aus mangelnder Führungskraft eines militärisch unbedarften Zaren Alexander I. und einer zögerlichen und uneinheitlichen obersten Militärführung.

Doch die steten Rückzüge der Russen und das weitgehende Fehlen konkreter Informationen locken Napoleon immer weiter ins Land, wo unablässige Kosakenattacken für stete Unruhe sorgen und die Taktik der verbrannten Erde ihren Tribut fordert. Als es endlich zur verlustreichen Schlacht von Borodino kommt, ist die französische Kavallerie bereits mehr als halbiert und der teuer erkaufte Sieg führt keine Entscheidung herbei. Noch weniger aber eine irgendwie geartete Bereitschaft des Zaren zu Friedensverhandlungen: „Napoleon hält mich für einen Dummkopf, aber wer zuletzt lacht, lacht am besten."

Und es sind zwei Personen, die dazu beitragen. Zum Einen ist der schlaue Kutusow nun Oberbfehlshaber und er weicht nicht nur einer Entscheidungsschlacht aus, er opfert sogar das heilige Moskau als Falle für die Invasoren, während der Zar im fernen Sankt Petersburg nicht einmal Verhandlungsführer des französischen Kaisers zu empfangen breit ist. Der zweite, weniger bekannte Entscheidungsträger ist Graf Rostoptschin, der Stadtgouverneur von Moskau. Es gab keinen Plan, die Stadt in Brand zu setzen, allerdings ließ Rostoptschin alle Feuerspritzen aus der Stadt entfernen und zugleich die Gefängnisse öffnen.

Das beförderte nicht nur die Flucht der Bürger, denn die Zuchthäusler zogen marodierend durch die Stadt. Kaum sind die übriggebliebenen 100.000 Mann Napoleons Mitte September eingezogen, brennt Moskau.

Auch die Unschlüssigkeit des im Kreml wartenden Korsen und der fatal verzögerte verlustreiche Rückmarsch der Grande Armee im überraschend früh einsetzenden Winter sind dann gleichermaßen fesselnd und detailliert beschrieben. Die Autorin, die mit manchen Legenden aufräumt, erklärt jedoch nicht nur die großen militärischen und politischen Dimensionen des Geschehens, sie macht durch zahlreiche Augenzeugenberichte ebenso anschaulich, welches Drama diese aus vielen Nationalitäten zusammengewürfelte Truppe durchlitt.

Anka Muhlstein lässt den modernsten Stand der Forschung in ihre Ausführungen einfließen, die zugleich von viel Einfühlungsvermögen geprägt sind. Fazit: ein Meisterwerk moderner Geschichtsschreibung und gerade auch für interessierte Laien eine spannende Lektüre.

 

# Anka Muhlstein: Der Brand von Moskau. Napoleon in Russland (aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann); 323 Seiten, div. Abb.; Insel Verlag, Frankfurt;

€ 22,80

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: SB 219 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de