JODI PICOULT: „19 MINUTEN"

In 19 Minuten kann man sich die Haare färben oder den Vorgarten mähen. Oder aber zehn Menschen töten und viele weitere verletzen und eine Kleinstadt wie Sterling, New Hampshire, schockartig aus der Bahn werfen. „19 Minuten" heißt auch der neue Roman von Erfolgsautorin Jodi Picoult, die mit diesem Amoklauf an einer Schule erneut ein äußerst heikles Thema aufgreift.

Doch dieser Bestseller aus den USA beschreibt nicht einfach ein unfassbares Geschehen, die Autorin wagt sich auch den Täter heran, wagt sich an die Gründe für seine Explosion von Rache heran. Peter Houghton ist 17, schmächtig, blass, ein hochsensibler Brillenträger. Warum packt dieser Stubenhocker am Dienstag, dem 6. März 2007, vier Pistolen und zwei Rohrbomben in seinen Rucksack und schießt dann in seiner Highschool scheinbar wahllos um sich? Und lässt sich wie betäubt von einem beherzt eingreifenden Polizisten verhaften?

Stück für Stück offenbart sich in ungeheuer fesselnder Dramaturgie das eigentliche Geschehen wie auch die allmähliche Entwicklung Peters zum blindwütigen Rächer für 19 Minuten. Die erfahrene Autorin lässt die ersten Demütigungen des Zweitgeborenen miterleben, als schon am ersten Tag auf dem Weg zur Schule ein älterer Junge Peters Superman-Brotdose aus dem Busfenster wirft. Der Vater bevorzugt offenbar den weniger schusseligen, sportlicheren Bruder und in der Schulzeit werden die Demütigungen schließlich zur alltäglichen Seelenpein. Peter zieht sich in eine eigene Welt in seinem Zimmer und mit Computerspielen voller Gewaltfantasien zurück.

Bis dann auch noch die ohnehin enttäuschte Sehnsucht nach Mitschülerin Josey, der Tochter von Richterin Cormier, einen besonders verletzenden Stempel aufgedrückt bekommt. Ist er also ein bedauernswertes Opfer der Rundum-Schadenfreude seiner Mitmenschen? Solide recherchiert und sensibel beschrieben, vermeidet Jodi Picoult, um Verständnis für das Unverzeihliche zu heischen, vielmehr gelingt es ihr überzeugend, ein Verstehen für die fatale Entwicklung bis hin zum Ausbruch in einer explosiven Phase einer sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu ermöglichen, sich das Unvorstellbare real vorzustellen.

Darüber hianus ist dieser bis zuletzt packende Roman nicht nur das Psychogramm eines grausam ausflippenden Teenagers sondern ein Thriller vom Feinsten mit hervorragend gezeichneten Charakteren. Da wird das Entsetzen der Mutter des Täters ebenso beklemmend spürbar wie das Trauma der Überlebenden. Dabei kommt Josey im hochspannend ausgebreiteten Gerichtsverfahren eine besonders tragische Rolle zu, denn ausgerechnet sie als bestmögliche aller Augenzeugen steht seit dem Schockerlebnis unter Amnesie.

Die Fülle an Szenen und Bildern, die sich tief einprägen, wie auch die gewohnt klare, fein artikulierte Sprache machen diesen brillant geschriebenen Roman zu einem unvergesslichen Meisterwerk, das an trauriger Aktualität kaum zu überbieten ist.

 

# Jodi Picoult: 19 Minuten (aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann); 479 Seiten; Piper Verlag, München; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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