JOYCE CAROL OATES: „NIAGARA"

Einen solch fulminanten Auftakt für einen Roman wie bei „Niagara" von Joyce Carol Oates gibt es selten: am 12. Juni 1950 heiratet die Pfarrerstochter Ariah und wird noch in der Hochzeitsnacht zur Witwe, weil sich ihr Mann in den wild tosenden Wasserfall stürzt. Der bleiche verschlossene Pastor verwand wegen seiner uneingestandenen Homosexualität den Schock der sexuellen Begegnung mit der leidlich hübschen Jungfrau nicht.

Für Ariah erscheint es wie ein Fluch, doch findet sie in den Tagen nach dem Unfassbaren nicht nur den Leichnam sondern auch die große Liebe. Unwissend und weltfremd in die Ehe gegangen, erlebt sie mit dem ebenso angesehenen wie attraktiven Anwalt Dirk Burnaby einen unerwarteten Taumel aus Sex und körperlicher Nähe und keinen Monat nach der ersten folgt die zweite Eheschließung. Auf sehr eigene Weise wird das ungleiche Paar glücklich, wenngleich Ariah den Fluch der Niagarafälle fürchtet, die hier in der aufstrebenden Stadt Niagara Falls wie überhaupt in diesem fesselnden Epos über 30 Jahre stets präsent sind.

1951 wird Sohn Chandler geboren und Ariah hegt heimliche Zweifel, welcher der Ehemänner der Vater ist. Während Dirk aufsteigt, zieht sie sich eher zurück, zumal seine reiche Familie sie mit Missachtung abtut. Nach der Geburt von Sohn Royall 1958 und Tochter Juliet 1962 und einer vermeintlichen Normalisierung hin zu einer durchschnittlichen Mittelklassefamilie dann der grandiose Umschwung der gesamten Geschichte, als die „Frau in Schwarz" schicksalhaft in Dirks Leben eintritt und der schwindelerregende Niedergang einsetzt.

Plötzlich bekommt das Geschehen völlig andere Dimensionen, denn die Fremde ist nur in Ariahs spröder Unsicherheit eine vermeintliche Geliebte, Dirk jedoch reißt sie aus dem wohlvertrauten Erfolgsleben hinein in einen von Idealismus und Naivität durchdrungenen Kampf und das vor sehr realem Hintergrund: die Affäre um die unglaubliche Umweltsünde am so genannten Love Canal, die erst in den 70er Jahren vollends für Furore in den USA sorgte. Jahrelang hatten örtliche Chemiefabriken ihre Abfälle in den nie fertig gestellten Kanal geschüttet und das Gelände 1952 an die Stadt verhökert, die auf dem Bauland eine Arbeitersiedlung errichtete.

Der Frau in Schwarz gelingt es, dem Feine-Leute-Anwalt das Elend der vergiftet siechenden Bewohner auf dem Love Canal zu eröffnen und sie zieht Dirk in einen Anfang der 60er Jahre noch aussichtslosen Krieg gegen die mächtigen Kreise, denen er selbst entstammt. Und es geschieht schließlich, was Ariah immer gefürchtet hat – auch dieser Ehemann verschwindet plötzlich. Sie erklärt den Vater zum Tabu für die noch kleinen Kinder, für die er damit zum Unbekannten wird. Und erneut erhält der Roman eine atemberaubenden Wendung, denn als die Kinder heranwachsen, beginnen sie, die Geschichte ihres totgeschwiegenen Vaters zu erforschen.

Das Familiendrama bleibt eine auch öffentliche Geschichte und fesselt bis zuletzt in der besten Prosa, die Joyce Carol Oates wohl je geschrieben hat, souverän, lebensnah und mit exzellenten Charakterzeichnungen. Das lebt dann ebenso von dem Wunder der Wasserfälle im Gegensatz zu den schäbigen Seiten der Stadt wie andererseits von einer geradezu stoischen Schicksalsergebenheit. Fazit: ein absolut virtuoses Stück Literatur vor einer ungemein spannenden Szenerie, voller Tragik, Glücksmomenten, menschlichen Niederungen und Idealismus, kurz – ein zutiefst überzeugendes Meisterwerk.

 

  # Joyce Carol Oates: Niagara. Ein amerikanisches Verhängnis (aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz); 567 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 22,90 WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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