CHRISTOPHER CLARK: „PREUßEN"

Wenn sich ein Historiker wie der Australier Christopher Clark, Professor für Neuere und Europäische Geschichte am St. Catherine's College in Cambridge, des schwierigen Themas Preußen annimmt, birgt das zwei Chancen: die Betrachtungsweise ist weder preußenfeindlich noch prussophil, zudem erfolgt die Ausarbeitung in der typisch angelsächsischen wissenschaftlich fundierten und zugleich klaren, lebendigen Sprache.

Clarks monumentales Werk „Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947" erfüllt diese Erwartungen in brillanter Weise in dem gelungenen Versuch, die Kräfte zu verstehen, die Preußen geformt und zerstört haben. Der Erscheinungszeitpunkt für das Buch ist dabei geradezu zwingend, denn mit dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 46 wurde der Staat Preußen am 25. Februar 1947 aufgelöst. Was jedoch in den rund 350 Jahren seit seinem Entstehen aus der kargen Mark Brandenbrug um 1600 geschah, ist nicht nur preußische sondern europäische und Weltgeschichte. Clark räumt bei seiner Schilderung einer überaus wechselvollen Staatsbildung mit manchen Legenden auf und lässt den vermeintlichen Militarismus des zunächst im wesentlich durch geschickte Heiratspolitik wachsenden Flickenteppich des Hohenzollern-Staates verständlich werden.

Das Trauma des wehrlosen Opfers im 30-jährigen Krieg klingt lange nach und auch die folgende wenig planvolle Staatswerdung einschließlich des Erwerbs des abgelegnen Herzogtums Preußen als Namensgeber wirken zunächst wenig machtvoll. Der eigentliche Gründervater Preußens, der Große Kurfürst, erkannte, dass militärische Stärke für den Fortbestand mindestens so unverzichtbar war wie eine flexible Pendelpolitik der Koalititonen in den ständigen Kriegen der europäischen Mächte. Er wie seine großen Nachfolger, dem Soldatenkönig und noch mehr Friedrich der Große, sorgten jedoch nicht nur durch militärische Erfolge für den Aufstieg Preußens bis zur europäischen Großmacht, es entwickelte sich ein moderner Staat, fortschrittlich, konfessionstolerant und in wesentlichen bereichen dem Primat der praktischen Vernunft unterworfen.

Clark führt jedoch auch vor Augen, wie verwundbar die absolutistische Herrschaftsform diesen Staat machte, als er zum Beispiel in Friedrich Wilhelm III. Einen scheuen introvertierten König hatte, den Eroberer Napoleon quasi links liegen ließ im gedemütigten Rest-Preußen nach 1806. Mit der gleichen klaren Darstellung wie in diesen dramatischen Zeiten wird auch die deutsche Reichsbildung unter dem als genial gezeichneten Otto von Bismarck erhellt. Es folgt der zwingende Nachweis, wie einerseits aus dem europäischen Staat Preußen ein deutscher wurde und wie die Hybris eines unfähigen Narziss wie Kaiser Wilhelm II. dieses komplexe Gebilde an den Rand des Untergangs führte.

Ebenso überzeugend gelingt aber auch die Beweisführung, dass Preußen innerhalb der Weimarer Republik ein Garant der Demokratie war, bis mit Reichspräsident Hindenburg ausgerechnet ein Vertreter des vermeintlichen preußischen Militarismus zum Leichengräber dieses Staates wurde, als er es dem „österreichischen Gefreiten" Hitler in die Hände fallen ließ. Die Schlussfolgerung des Historikers lautet denn auch: „Deutschland war nicht die Erfüllung Preußens, sondern sein Verderben."

Clarks Werk überzeugt neben den exzellenten Darlegungen der politischen, militärischen und wirtschaftlich-kulturellen Aspekte der preußischen Geschichte auch durch die treffenden Porträts herausragender Akteure. Souverän hat Clark dabei eine ungeheure Fülle an Daten und Fakten ausgewertet und sie so spannend aufbereitet, dass dieses Standardwerk Fachleute wie interessierte Laien gleichermaßen begeistern wird.

 

# Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947 (aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz und Thomas Pfeiffer); 896 Seiten, div. Abb.; DVA, München; € 39,95

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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