PAUL VERHAEGHEN: „OMEGA MINOR"

Wohl selten trifft die Bezeichnung eines Buches als echter Hammer in seiner ganzen handfesten wie brachialen Bedeutung zu wie bei „Omega Minor", dem atemberaubenden Debütroman des jungen flämischen Psychologen Paul Verhaeghen. Mit geradezu barocker Fabulierkunst, dabei respektlos, mal hart bis zur kaum erträglichen Grausamkeit, mal von poetisch-philosophischer Eleganz fängt er das Weltgeschehen des barbarischen 20. Jahrhunderts ein.

Da wird Anfang 1995 der flämische Austauschdozent Paul in einer Berliner U-Bahn von Neo-Nazis zusammengeschlagen, als er helfen will. Im Krankenhaus begegnet er Josef de Heer, einem alten Juden, der hier nach einem Selbstmordversuch weilt. Der Alte hat den Holocaust dank seiner Talente als Zauberkünstler überlebt und in der DDR seinen Unterhalt als Fernsehzauberer verdient. Pauls Neugier als kognitiver Psychologe – unschwer als alter ego des Autors zu erkennen – ist geweckt und er beginnt, de Heers bewegende Vita als Nazi-Verfolgter und Auschwitz-Überlebender aufzuzeichnen.

Doch da sind auch andere, massive Erzählstränge wie der von Goldfarb, dem jungen jüdischen Atomphysiker, der im letzten Moment in die USA entkommen kann und Entscheidendes zum Bau der Atombombe beiträgt. Oder dem Nazi-Filmstar Helena Guna, die sich in wilder Sex-Gier dem Lebensborn e.V. zur Verfügung stellt, um dem Führer ein germanisches Prachtkind zu schenken. Ihr frivoler Weg endet jedoch im Elend, als das Kind nicht ganz weiß geboren wird. Und es herrschen Krieg, SS-Intrigen, Atomspionage, Verfolgung, Verrat und unsägliches menschliches Leid, aber neben viel körperlicher auch tiefgehende emotionale Liebe.

In einem faszinierenden und passagenweise rauschhaften

Sprachfeuerwerk verknüpft der Autor Geschichten von packender Intensität, als würden die Zufälle Maskenball feiern. Doch dieser Eindruck täuscht auf magische Weise, wie die Entwicklung in ihrer raffinierten Dramaturgie allmählich erst enthüllt. Nichts ist tabu, alles ist zutiefst menschlich, offenbart zugleich manch beklemmende Unmenschlichkeit und gipfelt schließlich in der Erkenntnis: „Der Teufel ist ein Instrument Gottes."

Das Grauen findet Worte und bleibt dennoch gleichsam unfassbar, wenn der Leser auf schier unerträgliche Weise in Auschwitz KZ-Arzt Mengele über die Schulter schaut und mit dem Autor nur noch die Frage bleibt: „Wenn die Wahrheit jeglicher Fantasie spottet, können wir sie dann begreifen?" Im genialen Gegenlicht wird da der Leser in den grandiosen Schilderungen des Atombombenbaus leichtfüßig in das Grundverständnis der Atomphysik eingeführt bis hin zu jenem Omega-Ereignis von Alamogordo im Juli 1945, nach dem nichts mehr so war wie zuvor.

In seiner dämonischen Opulenz stellt dieses gewaltige und hochdynamische Epos den grausamen menschlichen Empfindungen des Todesdrangs jene der Liebe entgegen, dies allerdings vor allem in exzessiven erotischen Passagen. Verhaeghen scheut keinerlei Intimität und streift zuweilen die Grenzen der Obszönität, dennoch gelingen auch diese Szenen dank ihrer meisterhaften Authentizität, die sie dem Vorwurf der Pornographie entreißen.

Zum Ende hin wird der Leser auf brillante Weise düpiert und die gesamte Collage gipfelt in einem ebenso genialen wie wahnsinnigen Finale, in einem kleinen Ende der Welt, einem Omega minor eben, das tief unter die Haut geht. Fazit: dieser provokative Geniestreich ist eine wahre intellektuelle und emotionale Herausforderung und mit Gewissheit eines der großartigsten Bücher der letzten Jahre. Man verschlingt es und es wird unvergesslich bleiben.

 

# Paul Verhaeghen: Omega Minor (aus dem Flämischen von Stefanie Schäfer); 955 Seiten; Eichborn Verlag, Berlin; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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