J. M. COETZEE: "ZEITLUPE"

Mit einer atemberaubend grandiosen Passage über einen schweren Unfall, den der alternde Paul Rayment erleidet, beginnt "Zeitlupe", der neue Roman des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee. Alles ändert sich für den alleinstehenden Ex-Fotografen, denn sein rechtes Bein muss bis übers Knie amputiert werden. Doch er verliert weit mehr als nur ein Körperglied, er verliert die von ihm so hoch geschüätzte souveräne Unabhängigkeit des alltäglichen Lebens.

Ohne Freunde oder Familie verfällt er in Reflektionen über ein irgendwie vergeudetes Leben. Um so mehr beeindruckt ihn nach einem ersten Reinfall mit einer robusten Pflegerin deshalb die freundliche Professionalität der aus Kroatien eingewanderten Tagesschwester Marijana und es verwundert nicht, dass er der verheirateten Mutter dreier Kinder bald weit gehende Gefühle entgegenbringt und ihren ältesten Sohn sogar vorübergehend gewissermaßen als Patenonkel unterstützt. Dennoch bleibt der 60-Jährige für Marijana Familie ein Fremder, ja, eher sogar ein wohlmeinender alter Narr.

So eindringlich lebensnah das alles geschildert ist, so ungewöhnlich erscheint dann die unvermutet in das reduzierte Leben Pauls hineinplatzende Elisabeth Costello. Diese Schriftstellerin, die schon im letzten Roman des Autors eine zentrale Rolle spielte, gibt dem Geschehen nun einen metaphysischen Dreh, denn in einem regelrechten Duell zwischen dem langsamen Mann (der Originaltitel lautet übrigens auch "Slow Man") und der in allem zu hastigen Elisabeth behauptete diese, er sei als Romanfigur zu ihr gekommen.

Es bedurfte schon der Meisterschaft eines J. M. Coetzee, um diesen literarischen Taschenspielertrick gelingen zu lassen. Und so gerät das Geschehen nun zur bewegenden Geschichte eines Mannes, der sein verkorkstes Leben trotz allem selbst in der Hand behält, obwohl der Verlust des Beines nur der Vorgeschmack darauf war, wie es sein wird, alles zu verlieren. Die lakonische Poesie des Sprachmagiers Coetzee fasziniert einmal mehr mit ihrer ungemein nahen und gerade in ihrer Nüchternheit tief unter die Haut gehenden Intensität. Fazit: Ein außergewöhnlicher Roman aus dem ganz realen Leben trotz des Ausflugs ins Fantastische.

 

# J. M. Coetzee: Zeitlupe (aus dem Englischen von Reinhild Böhnke); 303 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 18,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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