KONRAD HANSEN: "DER WILDE SOMMER"

60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs legt Konrad Hansen einen ebenso ungewöhnlichen wie fesselnden Roman über jenes letzte Kriegsjahr und den ersten Sommer des Friedens vor. "Der wilde Sommer" hat der Erfolgsautor ihn genannt, denn auf das Chaos des Kriegsendes folgt erst einmal das Durcheinander einer abenteuerlichen Melange dessen, was noch streng gilt, sowie dessen, was jede Bedeutung verloren hat und was neuerdings zu gelten scheint.

Hansen stellt den 15-jährigen Hannibal Witt aus der Probstei im Schleswig-Holsteinischen in den Mittelpunkt. Das erweist sich als dramaturgischer Glücksgriff, denn Hansen ist selbst nur drei Jahre später als "Hanno" geboren und ebendort aufgewachsen, entsprechend authentisch ist dieser turbulente und durchaus gewagte Roman. Für die Jugendlichen bestand das Kriegsgeschehen hier in der Provinz bis dahin im Wesentlichen aus dem Beobachten feindlicher Flugzeuge. Das nahende Kriegsende macht sich deshalb erst mit Flüchtlingsströmen bemerkbar und dann kommen die Engländer. Vorbei ist es mit der Gleichmut der Dörfler, denn nun bricht jede Ordnung zusammen und es kommt zu Exzessen von Rechtlosigkeit und Sittenverfall.

Hanno erlebt Dramatisches, sei es als unfreiwilliges Mitglied einer abstrusen Werwolfgruppe, sei es mit der ersten großen aber unerwiderten Liebe zum Flüchtlingsmädchen Anna oder mit immer neuen Aktivitäten im Überlebenskampf, die unter "normalen" Umständen schlichtweg als kriminell einzustufen wären. Doch diese Nachkriegsmonate im heißen Sommer 1945 sind geprägt von Elend und Hunger, von Anarchie und einem verzweifelten Lebenshunger. Und es ist die Zeit der skrupellosen Schieber und der verwegenen Blitzkarrieren, während zugleich im ausgebrochenen Frieden viele Schranken einreißen. Es sind nicht nur die jungen, noch einmal davongekommenen Menschen, die zudem sexuell ausgehungert sind. Da gründet Hannos Tante einen florierenden Puff im Ort und auch er macht eines Tages seine ersten 'Erfahrungen'. Aber auch angesehene Bürgersfrauen stillen ihre Sehnsüchte hemmungslos, während viele Entwurzelte darben.

Zusätzliche Verwirrung in Hannos Leben bringt sein Vater, denn der Luftikus war nach Schweden desertiert und schwingt sich nach der Heimkehr zu zweifelhaftem Ruhm als Unterhaltungskünstler auf. Der sensible Junge aber hat noch ganz andere Sorgen wie zum Beispiel mit einem versteckten Verehrer seine Dichtkünste, der sich als untergetauchter SS-Offizier entpuppt, oder überhaupt mit allen Aspekten der voll ausbrechenden Pubertät.

Einschließlich aller realistisch dargestellten Brutalität, Niedertracht und Sinnlichkeit ist das Alles zu einem grandiosen Epos mit überaus stark gezeichneten Charakteren geraten. Hansen schreibt mit hintergründigem Humor, fügt aber ebenso Szenen von drastischer Komik und auch rauer Poesie ein. Doch so handfest und derb seine Sprache auch ist, er beherrscht sie souverän und mag er seine Figuren in all ihren Unzulänglichkeiten auch entlarven – er macht sie nicht lächerlich. Fazit: ein faszinierend lebenspraller Roman über eine Zeit in Deutschland, an die sich manche Dabeigewesene so wohl nur heimlich erinnern mögen.

 

# Konrad Hansen: Der wilde Sommer. Roman aus dem Jahr 1945; 476 Seiten; Piper Verlag, München; € 22,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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