T.C. BOYLE: "DR. SEX"

John Milk ist ein schüchterner Student, als ihn 1939 eine Kommilitonin an der Universität von Indiana in eine ganz spezielle Vorlesung mitnimmt. Er soll sich als ihr Verlobter ausgeben, denn nur dann darf sie am so genannten Ehekurs des Professor Alfred C. Kinsey (1894-1956) teilnehmen. Nicht nur für den braven Milk ist es ein revolutionäres Erlebnis, denn die Forschungen dieses Zoologen mit dem Spitznamen "Dr. Sex" werden einige Jahre später die gesamten USA in Empörung versetzen.

Und "Dr. Sex" ist auch der Titel von T. C. Boyles jüngstem Roman, der sich vor realem und gründlich recherchiertem Hintergrund abspielt. Der spitzzüngige Erfolgsautor lässt seinen Ich-Erzähler Milk die Jahre als Assistent von 'Prok' Kinsey am Rande von dessen Beerdigung schildern. Während Milk einerseits in Liebe zu der hübschen Iris erglüht, die er später auch heiratet, gelangt er andererseits in den engsten Kreis der Mitarbeiter des ebenso besessenen wie emotionslosen Forschers, der bei seiner Gier, das ganze Land sexuell zu vermessen, keine moralischen Hemmungen und Skrupel kennt. Drastisch in Wort und Bild, aber auch im praktizierten "Selbstversuch" lebt Prok seinen Wahn aus.

Dazu gehören solch skurrile Veranstaltungen wie das Statistikfestival 'Onanie der Tausend' ebenso wie das verdeckte Beobachten von Prostituierten bei ihrer Arbeit und immer wieder auch die wissenschaftlich verbrämten Partnertauschparties. In grenzenloser Sammelwut entsteht als erstes der 804 Seiten umfassende "Kinsey-Report" über das sexuelle Verhalten des Mannes, der 1948 für einen riesigen Aufruhr im prüden Amerika sorgt. Dieser Zusammenprall von Kinseys empirischen Erkenntnissen samt seinen schrankenlosen Glaubensbekenntnissen und dem moralinsauren Sittenkodex der Gesellschaft ist explosiv und erschüttert das Moralgerüst weit über die USA hinaus.

Milk jedoch lässt in seinen fiktiven Erinnerungen neben der Begeisterung über die Pionierarbeit des schillernden Sexual-Gurus, der seine eigene Unersättlichkeit dabei auslebt, auch die zunehmende Verwirrung anklingen, die die Reduzierung der Partnerbeziehung auf bindungslosen Sex für ihn als liebenden Ehemann bedeutet. Und diese meschliche, ja romantische Seite der Geschichte macht den ohnehin glänzend geschriebenen Roman endgültig zu einem literarischen Juwel. Trotz des Titels und des Sujets ist das Buch im Übrigen keineswegs pornografisch geraten und selbst die bekannt giftige Satire T. C. Boyles verwöhnt hier mit wohltuender Eleganz und manch subtilem Humor.

 

# T. C. Boyle: Dr. Sex (aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren); 471 Seiten; Carl Hanser Verlag, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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