SARAH KIRSCH: "SÄMTLICHE GEDICHTE"

"Auf seinen Flügeln/Trägt der Schwan das /Licht aus den Wellen". Mit solch schwebendem Tonfall bezauberte Sarah Kirsch in ihrem letzten Gedichtband "Schwanenliebe" von 2001. Welch ein Weg von jenen narrativen Langgedichten, die noch in "Erlkönigs Tochter" mit manch wuchtigem Pinselstrich in den Bann schlugen, über "Bodenlos" mit jenen ersten drastischen Reduzierungen, als streife die Dichterin endgültig jeden erdenschweren Ballast ab.

Pünktlich zum 70. Geburtstag der bedeutendsten lebenden Lyrikerin deutscher Sprache liegt nun ihr gesamtes poetisches Werk in einem Band "Sämtliche Gedichte" vor. Da versteht sie Spannung aufzubauen im ersten Gedichtband von 1967, seinerzeit noch in der DDR lebend, und erhält noch 1976 vor ihrem Wechsel in den Westen den Petrarca-Preis. Als sie 20 Jahre später mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wird, gilt die Ehrung "der Poetin der Schönheit des Lebens, Erlkönigs Tochter", und kein Geringerer als Marcel Reich-Ranicki erhebt sie zur jüngeren Schwester von Annette von Droste-Hülshoff.

Die verdienstvolle Werkschau, die alle zehn Gedichtbände enthält, gipfelt in jenen kurzen titellosen Gedichten der reduzierten Form, die mit vielen Boten aus der Vogelwelt winzige Farbtupfer in die Welt setzt, die voller Magie sind. Die Neigung zur schlichten, häufig lakonischen Klarheit, steht dabei nicht im Widerspruch zu ihrem Gegeneinander zwischen der Lebensfülle der Natur und ihren stets präsenten Motiven von Einsamkeit und Todesnähe: "Die Einsamkeit und die/ Freiheit Kinder des/ Mondes Hand in Hand."

Dieser Band ist gewiss ein Juwel der deutschsprachigen Literatur und offenbart zusammengefasst das große Werk einer Sprachzauberin in all ihren Wandlungen über die Jahrzehnte hinweg.

 

# Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte; 560 Seiten; Deutsche Verlagsanstalt, München; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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