OLIVER LUBRICH: "REISEN INS REICH 1933-1945"

Subjektivität und Verdrängung prägten die meisten Schilderungen, wenn Deutsche ihre Erinnerungen an das Dritte Reich niederschrieben und vieles ist durch die zeitliche Entfernung der Niederschriften zusätzlich verschwommen. Um so wertvoller und aufschlussreicher ist die Sammlung von zeitnahen Ausführungen, die der junge Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich nun in Band 240 der honorigen 'Anderen Bibliothek' des Eichborn Verlages vorgelegt hat.

"Reisen ins Reich 1933-1945" hat er sie überschrieben, den entscheidenden Aspekt jedoch weist der Untertitel auf: "Ausländische Autoren berichten aus Deutschland". Schriftsteller, Korrespondenten und Geschäftsleute haben sich zeitnah und teils sogar unmittelbar aus dem direkten Erleben heraus in Essays, Berichten und Tagebucheintragungen geäußert. Vor allem aber ist es der Blick des Fremden, des Außenstehenden, der hier sowohl den Alltag im Dritten Reich wie auch Begegnungen mit Nazi-Größen und einschneidende Ereignisse wie die Reichsprogromnacht oder verheerende Luftangriffe auf Berlin beschreibt.

Da trifft Krimi-Autor George Simenon Hitler im Hotel-Aufzug und bemerkt im Februar 1933: "Am Mittwoch brannte der Reichstag und kein Deutscher legte das geringste Erstaunen an den Tag." Manche Verfasser lassen erkennen, wie ihre anfängliche Bewunderung für die entfesselte Willenskraft und die grandiosen Organisationsleistungen der Desillusionierung weicht und das zum Teil bereits in Teil I, der die Zeit bis zum Krieg umfasst. Da stellt zum Beispiel die an sich pro-deutsche Martha Dodd, Tochter des US-Botschafters, bereits 1937 fest, dass Hitler versessen auf die Liquidierung des deutschen Judentums hinarbeite.

Ein Text von Samuel Beckett ist hier in Erstveröffentlichung enthalten, alle übrigen wurden zeitnah veröffentlicht, viele jedoch nun erstmals auch auf Deutsch. Und die Erkenntnisse namhafter Zeitzeugen wie Thomas Wolfe, Max Frisch, Virginia Woolf oder Sven Hedin offenbaren manche Bestätigung wie jene zu Hitlers hypnotischen Augen oder Görings Luxusgehabe aus anderer Sicht. Besonders aber überrascht manches wie der verschiedentlich angemerkte Mangel an Kriegsbegeisterung und Siegesjubel im deutschen Volk. Korrespondent Howard Smith erkennt schon früh: "Die Deutschen folgen ihrer Führung, als würden sie am Schwanz eines rasenden Löwen hängen." Sein norwegischer Kollege Findahl wundert sich deshalb auch selbst im März 1945 gar nicht so sehr, dass es keinen Aufruhr gegen Hitler gibt sondern nur noch Apathie zwischen den Bombenangriffen.

Die vielleicht alarmierendsten Aussagen finden sich jedoch bei Karen 'Tanja' Blixen, die das Nazi-Reich wenige Tage vor der Besetzung ihrer dänischen Heimat im April 1940 besucht: "Das Wort Islam bedeutet Hingabe, es ist wohl dasselbe wie das, was im Dritten Reich mit seinem Handaufheben zum Ausdruck kommt: Dein im Leben und im Tod. Welche der beiden Mentalitäten die gefährlichere ist, ist schwer zu sagen." Sie sah darin das ungeheure Selbstwertgefühl des Rechtgläubigen gegenüber allen Ungläubigen wie im Islam zu Zeiten seiner aggressiven Ausbreitung – eine Wertung von erschreckender Aktualität im umgekehrten Sinne....

Herausgeber Lubrich hat eine Sammlung geschaffen, die sträflich vernachlässigte Quellen endlich öffnet und für teils erstaunlich andere, erhellende Ansichten des Dritten Reichs und des Nationalsozialismus sorgt. Eine hervorragende Einleitung sowie Kurzbiographien aller Autoren runden ein Buch ab, das Experten ebenso begeistern dürfte wie jeden am Thema interessierten Laien.

 

# Oliver Lubrich (Hg.): Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland; 430 Seiten; Die Andere Bibliothek Bd. 240, Eicborn Verlag, Frankfurt; € 30

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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