NEAL STEPHENSON: "QUICKSILVER"

Ein Roman von 1147 Seiten zur Geschichte der aufkommenden Naturwissenschaften im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert und das soll spannend sein? Absolut Ja: dieses opulente Werk unter dem Titel "Quicksilver" ist so grandios geschrieben, dass sich selbst sehr anspruchsvolle Leser unweigerlich darin festlesen werden. Und dies ist erst der erste Teil der in den USA bereits gefeierten "Barock-Trilogie".

Verfasser Neal Stephenson gilt spätestens seit dem Riesenwerk "Cryptonomicon" als Kultautor und Kryptisches spielt auch hier zuweilen eine überraschend wichtige Rolle. Schon der Beginn von Buch I macht deutlich, in welche Umbruchzeiten die Geschichten führen, denn Enoch Root von der Royal Society kommt nach Boston, um im Gelehrtenstreit zwischen den genialen Naturphilosophen Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz zu vermitteln, stößt hier jedoch als erstes auf die Hinrichtung einer Hexe.

Es ist die Epoche des Barock und während aufgeklärte Empiriker sich den Wissenschaften widmen, herrschen ansonsten noch weitgehend Aberglaube und der blutige Ehrgeiz der Mächtigen. Diese Zeit ist wahrhaft aus den Fugen und nichts scheint mehr sicher – außer eben der Wissenschaft und hier insbesondere der Mathematik. Die aber steht zunächst mit hinreißenden Abenteuern nicht nur des Geistes im Vordergrund und das eigentlich Faszinierende ist die Tatsache, dass Alles auf exzellent recherchierten Fakten beruht und dennoch ungemein spannend, lebensprall und gespickt mit wunderbar gezeichneten Charakteren ausgebreitet wird.

Nachdem bereits mehr geboten wurde als sonst in manchen ganz abgeschlossenen Romanen, öffnet Buch II dann eine verblüffend neue Dimension, denn nun wird das schier überbordende Werk zum Schelmenroman. Der spielt zur Zeit der Türken vor Wien um 1683 und gemahnt zuweilen in aller Deftigkeit und mit manch herzhaft schwarzem Humor an weiland "Simplicissimus". Dennoch ist auch dies zielführend, lernt man nun doch die schöne Eliza kennen. Der englische Vagabund Jack Shaftoe hat sie aus einem Türkenharem befreit und die äußerst intelligente Frau schafft einen unglaublichen aber glaubwürdig entwickelten Aufstieg bis hinein in Adelskreise. Schließlich laufen in Buch III die Fäden zusammen und Eliza zieht die ihren im großen politischen Ränkespiel so geschickt, dass sogar die Weltgeschichte samt Wilhelm von Oranien und Ludwig XIV. erheblich beeinflusst werden.

Mit raffinierter Dramaturgie einschließlich virtuoser Wechsel von Erzählebenen und Stilarten bis hin zu Theaterpassagen und Briefen schafft Stephenson eine ungewöhnliche Sogwirkung, so dass man keine Zeile der 1147 Seiten missen möchte. Zur fesselnden Unterhaltung auf hohen Niveau trägt zudem das hervorragend ausgebreitete Zeit- und Lokalkolorit bei. Fazit: Dieser Autor ist nicht nur talentiert – er ist ein begnadeter Fabulierkünstler, wie es nur sehr wenige gibt. Um so mehr darf man auf Teil 2 der Barock-Trilogie mit den nächsten intellektuellen Herausforderungen gespannt sein.

 

# Neal Stephenson: Quicksilver (aus dem Amerikanischen von Juliane Gräbener-Müller und Nikolaus Stingl); 1147 Seiten; Manhattan Verlag, München; € 29

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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