LINN ULLMANN: "GNADE"

Johan Sletten ist 71 und zeitlebens hat er nichts Nennenswertes zustande gebracht. Die erste Ehe war lieblos und endete zu seiner Erleichterung durch einen Unfall. Sein einziger Sohn blieb ihm fremd und fern und aus dem Beruf als Zeitungsredakteur schob man ihn vor der Zeit in den Ruhestand ab. Sletten ist also absolut durchschnittlich und an sich kein bisschen bemerkenswert.

Und doch wird dieser Mensch jetzt, da er Krebs im Endstadium hat, zu einer Persönlichkeit, die uns dank der hohen Kunst der Charakterzeichnung und der literarischen Verdichtung Linn Ullmanns anrührt und fortlaufend mehr fesselt. "Gnade" heißt der dritte Roman der norwegischen Erfolgsautorin und diese Gnade hat einen Namen: Mai, Johans zweite Frau. Die Liebe dieser pummeligen Kinderärztin zu ihm ist das große Glück seines Lebens.

In der Ahnung des nahen Todes, der mit großen Schmerzen naht, beschließt Johan, einmal in seinem so unwichtigen Leben aufrecht zu gehen, Würde zu zeigen. Er bittet Mai, ihm zu gegebener Zeit eine erlösende Spritze zu verabreichen. Bleibt die Frage, ob die Liebe der jungen Frau groß genug ist für einen solchen gewaltigen Schritt. Bis dahin aber ziehen die Bilder von Vergangenheit und Gegenwart in Johans schmerzgepeinigten Kopf immer mehr in den Bann und es gibt Szenen, die man nicht wieder vergisst.

Linn Ullmann macht das langsame Vergehen des unbedeutenden Johan Sletten zu einem tief berührenden Sinnbild von Liebe, Sterbehilfe und der Unausweichlichkeit des Todes. Mag dieser kleine Roman auch traurig sein, er tröstet zugleich, gerade weil die Autorin so kunstvoll unsentimental schreibt. Keine großen Worte, keine hehren Gesten und dennoch ist "Gnade" ein wunderbares Stück anspruchsvoller Lektüre.

 

# Linn Ullmann: Gnade (aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger); 160 Seiten; Droemer, München; € 14,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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