LARS SAABYE CHRISTENSEN: "DER HALBBRUDER"

Barnum Nilsen hat die Erfahrung gemacht, "dass niemand mir glaubte, wenn ich die Wahrheit sagte, während mir alle glaubten, wenn ich log." Das sollte man wissen, wenn man die Familiensaga liest, die er als bunt fabulierender Ich-Erzähler da über ein Jahrhundert norwegischer Geschichte ausbreitet. Und Barnum wurde er genannt, weil sein dubioser Vater einst mit dem Zirkus zu tun hatte.

"Der Halbbruder" heißt dieser neue Roman von Lars Saabye Christensen und das Spiel zwischen Lüge, Wahrheit und Notlüge nimmt eine wichtige Rolle in dem opulenten Epos ein. Das setzt ausgesprochen drastisch ein, als Barnums älterer Halbbruder Fred am 8. Mai 1945, dem Befreiungstag, gezeugt wird, indem ein unbekannter Unhold die 19-jährige Vera vergewaltigt. Fred wird in eine Frauenriege hineingeboren, Veras handfeste Mutter Boletta und die abgedrehte Großmutter, die ebenfalls keinen Vater für ihr Kind hatte. Eine allgemein gemiedene Familie also.

Bis Arnold Nilsen mit dem dicken Auto auftaucht, eine Mickergestalt aber offenbar reich. Er heiratet Vera und bald wird Freds Halbbruder, der Ich-Erzähler, geboren. Oder ist Arnold womöglich am 8. Mai 1945 schon einmal hier gewesen und auch der Vater von Fred?! Die Halbbrüder entwickeln gleichwohl ein konfliktträchtiges Verhältnis zueinander, das das Leben der gesamten Familie bestimmt. Skurrile, gebrochene Figuren sind sie jedoch alle bis hin zu Monstrositäten wie einem raffinierten Vatermord am mutmaßlichen Doppelerzeuger.

Nicht umsonst hat Barnum Karriere gemacht als Drehbuchautor und das Erfinden von Lebenslügen ist ihm zur zweiten Natur geworden. Da schlägt das Erbe durch, denn schon der Vater hatte in der Jugend auf den abgelegenen Lofoten-Inseln verkündet, er werde eines Tages "Wind verkaufen." Die seltsamen Erlebnisse Arnolds gehören denn auch zu den auf grimmige Weise witzigsten Passagen dieses grandios vielschichtigen und oft genug abgründigen Romans.

"Der Halbbruder" ist ein Buch, das zu fesseln versteht, wenn man sich auf das unterschwellige Schweben zwischen Lüge und Wahrheit und auf die poetische Kraft dieser nordisch schwerblütigen Sprache einlässt. In Christensen norwegischer Heimat war der Roman bereits ein Riesenerfolg und wurde mit Preisen überschüttet.

 

 

 

# Lars Saabye Christensen: Der Halbbruder (aus dem Norwegischen von Christel Hildebrandt); 767 Seiten; btb, München; € 24,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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