YANN MARTEL: "SCHIFFBRUCH MIT TIGER"

Die Geschichte eines Alptraums und ein wunderbares Märchen zugleich ist der außergewöhnliche Roman "Schiffbruch mit Tiger". Der Kanadier Yann Martel erzählt darin von dem mörderischen Beziehungsdrama des 16-jährigen Pi Patel mit einem bengalischen Tiger, der 450 Pfund höchst attraktive Lebensgefahr darstellt.

Episch breit setzt das Buch ein und lässt den inzwischen in Toronto Religion und Zoologie studierenden Pi als Ich-Erzähler von seinem so unglaublichen Erlebnis berichten. Der Sohn eines Zoodirektors war schon früh ein erstaunlicher Jüngling, denn er beschreibt sich als Hindu, Christ und Moslem und die Darlegungen seines Weges zu dieser Vielfalt sind ebenso geistreich wie glaubwürdig und zeigen die Schönheit des Glaubens aller drei Religionen. Mit dem Aufbruch der Familie im Jahre 1977 unter dem Eindruck der diktatorisch regierenden Indira Gandhi endet Teil 1 des Buches: mit etlichen wilden Tieren schifft man sich nach Kanada ein.

Hochdramatisch und mitreißend geschildert dann der plötzliche nächtliche Schiffbruch. Pi findet sich im einzig übrig gebliebenen Rettungsboot wieder und rettet wie von Sinnen in Schock und Schmerz den Tiger "Richard Parker" ins Boot, in dem bereits ein verletztes Zebra, eine unheimliche Tüpfelhyäne, ein Orang Utan und eine Ratte Zuflucht gefunden haben. Es sind grandiose Szenen, wie diese kleine Arche bald nur noch den Jungen und den Tiger übrigbleiben lässt – aber wie können die Beiden diese tödliche Koexistenz überleben?

Erst allmählich begreift Pi, dass ihn ohne den lebensgefährlichen Partner die Hoffnungslosigkeit umbringen würde. Richard Parker wiederum würde ohne ihn schlicht verhungern. Und Pi erkennt, dass er nur eine Chance hat, wenn er sich als eine Art Hochseedompteur mit Trillerpfeife und kleinen Tricks zum Alpha-Tier über die Wildkatze erheben kann. Bis zur Rettung werden es 227 Tage, die er durchhalten muss und ihm eröffnet sich trotz aller Qualen und Momenten der Verzweiflung die entscheidende Frage der Schöpfung: "Gab es einen größeren Lohn als das Leben?"

Die faszinierende Entwicklung der unmöglichen Symbiose ist zugleich der sehr athmosphärisch geschilderte Beweis für Darwins Thesen, denn Pi siegt mit dem reichen Wissen des Zoodirektorssohn über die perfekte physische Gewalt des wilden Tieres. Und doch ist es auch der Glaube, der dem Jungen immer wieder Kraft verleiht – dessen Wirken aber webt der Autor elegant in einen hochspannenden und subtil ironischen Erzählfluss von hinreißender Fabulierkunst ein. Fazit: ein anspruchsvolles, lehrreiches, wunderbar versponnenes und sehr unterhaltsames Lesevergnügen.

 

# Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger (aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié); 382 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

 

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: Bel 208 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de