STEVE ERICKSON: "DAS MEER KAM UM MITTERNACHT"

"Das Meer kam um Mitternacht" ist bereits der sechste Roman des jungen Kaliforniers Steve Erickson, hierzulande gilt es ihn jedoch erst noch zu entdecken. Dazu ist dieses tiefgründige Verwirrspiel um wahre Strudel von Personen und Ereignissen von Atomversuchen in Nevada über den Mai '68 in Paris bis hin zu den Wirren um den Millenniumswechsel ein glänzender Einstieg.

Der setzt ein mit dem 31. Dezember 1999, als sich 2000 Mitglieder einer seltsamen Selbstmordsekte von den kalifornischen Klippen stürzen wollen. Bis auf die 17-jährige Kristin, die dem entfliehen kann und im Haus eines Fremden in Los Angeles Unterschlupf findet. Dieser mysteriöse "Bewohner" führt einen selbst entworfenen Kalender der Apokalypse, nach der das aktuelle apokalyptische Millennium am 7. Mai 1968 begann. Der Geheimnisvolle lebt wie in Wachträumen auf einer andauernden Zeitreise, wogegen Kristin niemals träumt.

"Wer keine Träume hat, ist ein Nomade" und Umherziehende gibt es zuhauf in dem bald einsetzenden Staffellauf immer neuer Hauptfiguren und Lebensläufe samt vieler kleiner Apokalypsen. Schnell, direkt und unerbittlich nüchtern mit Sätzen, die wie gemeißelt wirken und von wuchtiger Tiefenschärfe sind, treiben all die Geschichten in einem unablässigen Strom voller Zeitsprünge dahin. Nach der These des "Bewohners" ist ohnehin jeder Einzelne einem apokalyptischen Datum zugeordnet, alle aber sind Suchende, selbst wenn sie es kaum ahnen.

Manches scheint zunächst irreal wie ein wirrer Traum, doch wer sich auf die Lektüre einlässt, erlebt eine ungeheure Sogwirkung, denn jede der Geschichten hat ihre besondere eigene Spannung und irgendwann sind die Verküpfungen erkennbar. Dann laufen die Fäden auf raffinierte Weise zusammen und die virtuose Dramaturgie fasziniert ebenso wie manche brillanten Formulierungen von teils frappierendem Tiefsinn.

Mag das alles noch so fantastisch daherkommen, die Figuren sind greifbar real und psychologisch stimmig. Zugleich ist dies ein Buch voller philosophischer Fragen und sowohl im Gestern wie im nahen Morgen angesiedelt. Es erscheint als eine Art moderner magischer Realismus, auf jeden Fall aber ist es ein anspruchsvolles und nicht nur intellektuelles Lesevergnügen mit einer Sprache, die kühl ist, ohne jemals kalt zu wirken. Oder zu lassen. Und man kann diesen ungewöhnlichen Roman nicht nacherzählen, um so eher wird man ihn ein zweites Mal lesen wollen.

 

 

# Steve Erickson: Das Meer kam um Mitternacht (aus dem Amerikanischen von Peter Robert); 319 Seiten; S. Fischer Verlag, Frankfurt; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

 

 

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