PAUL AUSTER: "DAS BUCH DER ILLUSIONEN"

Wenn es einen Anwärter auf den Titel Roman des Jahres 2002 gibt, dann dürfte es "Das Buch der Illusionen" von Paul Auster sein. Mit genialer Dramaturgie erschafft der New Yorker Erfolgsautor ganze Welten, die in sich und miteinander absolut schlüssig und von unwiderstehlicher Sogwirkung sind.

Erzähler ist David Zimmer, Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an einer Hochschule in Vermont, der 1985 Frau und Kinder bei einem Flugzeugabsturz verliert. Lange Zeit verfällt der 40-Jährige in Verzweiflung mit Trunkenheit und Selbstisolierung. Da sieht er eines Nachts im Fernsehen einen Film mit dem wenig bekannten Stummfilmakteur Hector Mann, der ihn nach Monaten der Trauer zum ersten Mal wieder in ein Lachen ausbrechen lässt.

Wie einen Strohhalm zum Überleben begreift Zimmer den Einbruch in seine Lethargie und beginnt unter großen Mühen, die wenigen Filme Manns zu sichten und eine Biografie des 1929 auf nie geklärte Weise verschwundenen Stummfilmkomikers zu schreiben. Immer wieder und bis zum Schluss spielen der Film und frühe Hollywood-Zeiten eine zentrale Rolle im Geschehen und der Erzähler beschreibt Szenen und ganze Kurzfilme, dass man sie zu sehen, ja, geradezu mitzuerleben meint.

Nach Abschluss des Buches aber zieht sich der Professor wieder zurück in seine Abgeschiedenheit und verschreibt sich dem Übersetzen einer alten französischen Biografie. Um so überraschter ist er, als plötzlich ein Brief eintrifft und vermeldet, Hector Mann lebe in New Mexico und wolle ihn sehen. Zimmer glaubt den wenigen Zeilen nicht und ignoriert die Nachricht. Bis eines Nachts die ebenso mysteriöse wie attraktive Alma Grund vor ihm steht und ihn regelrecht zwingt, sich der Realität zu stellen. In immer neue Dimensionen weitet sich der Roman nun aus, denn durch Almas biografische Arbeit eröffnet sich jetzt auch das schizophrene Leben des Komikers, das voller tragödienhafter Verwicklungen eine Folge von Fluchten, von Schuld und Sühne war.

Hector Mann wird real, doch was ist Wahrheit, Wunsch, Illusion? "Die Wirklichkeit – eine bodenlose Welt aus Hirngespinsten und Halluzinationen", erkennt der Ich-Erzähler. Nicht nur in Manns Leben werden aus Lügen und Märchen Wirklichkeiten, die sich dann doch wieder verflüchtigen, auch Zimmer wird davon nicht verschont, als er in wenigen Tagen Faszination, Liebe, Drama und ohnmächtige Verzweiflung durchleben muss. Szenen von grandioser Intensität fesseln dabei ebenso wie der zuweilen durchschimmernde grimmige Humor.

Der Autor schafft ungewöhnliche Verknüpfungen und er ist ein hinreißender Fabulierer, der ganze Biografien voller Echtheit und Tiefe wie aus dem Handgelenk heraus erfindet, dennoch sind seine zutiefst menschlichen, bewegenden Figuren so glaubhaft, als berichte er von guten Freunden. Auch deshalb ist "Das Buch der Illusionen" ein literarisches Juwel, das man gewiss mehr als nur einmal lesen wird.

 

# Paul Auster: Das Buch der Illusionen (aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz); 384 Seiten; Rowohlt Verlag, Reinbek; € 19,90

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

Dieses Buch bei Amazon.de bestellen.


Kennziffer: Bel 164 - © Wolfgang A. Niemann - www.Buchrezensionen-Online.de