ANNIE WANG: "LILI"

"Lili" ist ein ungewöhnliches Buch, denn für Autorin Annie Wang war es nicht nur der erste Roman, den sie auf Englisch verfasste, die in den USA lebende Journalistin schildert die dramatischen Ereignisse der späten 80er Jahre in Peking aus eigener Anschauung. Dort wurde sie 1972 geboren und sie verließ ihre Heimat erst 1993.

Es ist der Entwicklungsroman einer jungen, unangepassten Frau, der seltene aber ausgeprochen spannende und entlarvende Einblicke in den meist wenig erfreulichen Alltag der Chinesen gibt. Diese Lili, etwa 27 Jahre alt, passt nicht in das parteikonforme Schema der "neuen Frau für das Neue Zeitalter". Für ihre unpolitische Freiheitsliebe, die sie in "lasterhaftem Benehmen" und "korruptem Lebensstil" mit anderen jungen Leuten auslebt, wird sie ohne Verhandlung zu drei Monaten Resozialisation durch Arbeit verurteilt.

Das ist ihr lieber als politischer Erziehungsunterricht: "Wenigstens müssen wir nicht bekennen oder lügen!" Wobei das grimmige Aufbegehren gegen die allgemein vorherrschende Verlogenheit und diese kleingeistige Unterwürfigkeit gegenüber allen Obrigkeiten ohnehin ein zentrales Thema des Erzählten ist. Für ihre seit der Kulturrevolution kleinlauten Eltern ist die Professorentochter zur Schande geworden und nun verdient sie ihr unregelmäßiges Einkommen auch noch mit Geigespielen in einem Luxushotel für Ausländer.

Gänzlich verloren für ein "normales Leben" im ebenso prüden wie rigiden und dogmatischen China ist Lili, als sie sich in den amerikanischen Journalisten Roy verliebt und sogar entgegen allen gängigen Moralvorstellungen mit ihm zusammenzieht. Zur gleichen Zeit kommen im Volk und hier vor allem bei Künstlern und Studenten Forderungen nach mehr Demokratie auf. Die jedoch durchaus nicht direkt antikommunistisch sind, so wird wiederholt skandiert: "Nieder mit der Bürokratie!" Es ist erschreckend, wie die eher ausgelassene als aggressive Stimmung plötzlich im Juni 1989 von der autokratischen Machtelite auf dem Tienanmen-Platz blutig niedergewalzt wird. Roy ist spurlos verschwunden und Lili muss erkennen, dass es für ihre Ideen von Eigenständigkeit in ihrer Heimat keine Zukunft gibt.

"Lili" ist ein frappierendes Buch, deftig in der Sprache und in vielem überraschend für westliche Leser. So verblüffen die Blicke in Hinterhöfe offenbar alltäglicher krimineller Verkommenheit und die gleichzeitig im Verborgenen blühende eigensinnige Künstlerszene. Als zentraler Eindruck aber bleibt die Frage: wenn dieses China das verheißene Paradies der Arbeiter und Bauern ist, wie mag dann wohl die Hölle aussehen?!

 

# Annie Wang: Lili (aus dem Amerikanischen von Margarete Längsfeld); 317 Seiten; Karl Blessing Verlag, München; € 21,90 WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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