ANNIE JACOBSEN: „72 MINUTEN BIS ZUR VERNICHTUNG“


Der Eine spricht die Codewörter „Foxtrot, Tango“, der Andere bestätigt mit den Codewörtern „Yankee, Zulu“. Dieser Andere ist der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der damit einem atomaren Gegenschlag die Freigabe erteilt.
Das aber passiert erst in Minute 23, nachdem der Satellit der Luftüberwachung um 04:03 Uhr an diesem 30. März den Start einer ballistischen Rakete (IBCM) von außérhalb der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang gemeldet hat. Eine „Hwasong-17“ mit einem nuklearen Sprengkopf von einer Megatonne Sprengkraft steigt in den Himmel und nach 15 Sekunden gibt der US-Supercomputer die klare Zielrichtung an: die Ostküste der USA.
Das ist der Ausgangspunkt zu dem furchtbarsten Buch der letzten Jahre, furchtbar wegen seines Inhalts und wegen seiner entsetzlichen Realitätsnähe. „72 Minuten bis zur Vernichtung“ lautet der Titel und der Untertitel offenbart, was genau damit gemeint ist: „Atomkrieg – Ein Szenario“.
Die renommierte US-Investigativjournalistin Annie Jacobsen, lässt diesen Albtraumfilm auf der Grundlage einschlägiger Fakten sowie zahlreichen umfassenden Interviews mit Experten wie hochrangigen Militärs, einstigen Präsidentenberatern sowie ehemaligen Verteidigungsministern ablaufen.
Für IBCM gilt grundsätzlich, dass sie nach dem Abschuss nicht mehr deaktiviert werden können. Doch als die Zielrichtung nach 30 Sekunden klar wird, herrscht Verwirrung. Welchen Sinn soll der Angriff mit einer einzelnen Rakete machen? Das Missile Warning Center sorgt für Analyse und Weitergabe – und schlägt nach 60 Sekunden Alarm. Der Angriffsmodus wird bestätigt und die Flugzeit von Nordkorea bis zur Ostküste mit 33 Minuten angegeben.
Nun greift die Strategie des „Launch on Warning“ aus den 60er Jahren, die bei einem erkannten Angriff mit Atomwaffen den Gegenschlag vor dem Einschlag vorschreibt. Eine riskante Strategie ohne Alternativen, die etliche US-Präsidenten ändern wollten, diese Absicht jedoch nie umgesetzt haben. Dabei sagen Experten unmissverständlich: „Egal, wie ein Atomkrieg begonnen hat, er endet im Armageddon.“
Nach neun Minuten sind die hochmodernen Abfangraketen damit gescheitert, die IBCM in ihrer quasi unsichtbaren mittleren Flugphase mit 22.000 km/h außerhalb der Athmosphäre zu vernichten. Der Präsident muss also handeln und er hat dazu ganze sechs Minuten für die Entscheidung. Und US-Präsidenten werden auf so etwas nicht trainiert, haben aber die alleinige Entscheidungsgewalt. Noch ist jedoch die Frage offen, ob dies ein realer Angriff ist und ob die IBCM nuklear bestückt ist.
Das Furchtbare wird in Minute 16 zur Gewissheit: 550 Kilometer vor der kalifornischen Küste startet eine Rakete von einem U-Boot! Sie wird ihr Ziel viel schneller erreichen und es ist das „Szenario des Teufels“ - sie schlägt gegen alle internationalen Regeln in das 1000-Megawatt-Atomkraftwerk von Diablo Canyon ein und löst ein Inferno aus.
Die jahrzehntelang gepflegte Irrsinslogik der gegenseitigen Abschreckung ist gescheitert und der Präsident gibt den Abschlussbefehl für 50 Minuteman-IBCM plus seegestützte Rakten auf Nordkorea. In Minute 33 dann der Lichtblitz über Washington, DC, der die US-Hauptstadt und Millionen Menschen in Sekunden eliminiert.
Zugleich aber tut sich die nächste Eskalation auf, denn die Minuteman-IBCM können Nordkorea wegen ihrer Reichweite nur auf einer Route über russisches Territorium erreichen. Und erstens ist das Frühwarnsystem „Tundra“ viel fehleranfälliger als das amerikanische SBIRS und zweitens gelingt es nicht, einen klärenden Kontakt zum russischen Präsidenten herzustellen.
In Minute 45 startet Russland deshalb wegen des vermeintlichen Großangriffs der USA 1.000 IBCM und jene von den U-Booten. Woraufhin der US-Präsident 49 Minuten und 30 Sekunden nach dem Start der „Hwasong-17“ den Befehl zur „Option Alpha“ gibt, dem massiven Gegenschlag gegen Russland. Und was zu dem nun folgenden Armageddon bis Minute 72 geschieht, hat die erschreckend nüchterne Konsequenz: „Atomkrieg ist etwas Finales“.
Wozu dann auch die von Experten berechneten Nachwirkungen von allumfassender Vernichtung und dem sogenannten nuklearen Winter kommt, der die Erde auf Jahre kalt und dunkel werden lässt. Vom Beginn des im Minutentakt heruntergezählten Weltuntergangsszenario an bleibt ungeklärt, warum der erratische Diktator von Nordkorea mit dieser infamen Taktik das Ende der bekannten Welt eingeläutet hat – es muss jedermann klar sein, wohin das Spiel mit diesem Feuer unweigerlich führt, denn alle Experten sind sich einig: „einen begrenzten Atomkrieg gibt es nicht.“
Annie Jacobsen beschert mit diesem Buch Abläufe und Zahlenspiele des blanken, ganz real lauernden apokalyptischen Horrors und das erschreckend plastisch. Fazit: dieser Doku-Thriller ist ein atemberaubender Lesestoff, der mit grausiger Anschaulichkeit fasziniert und einem den Atem raubt.

# Annie Jacobsen: 72 Minuten. Atomkrieg – Ein Szenario (aus dem Amerikanischen von Oliver Lingner und Ulrike Strerath-Bolz); 400 Seiten, div. SW-Abb., Klappenbroschur; Heyne Verlag, München; € 22


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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