MICHAEL KÖHLMEIER: „DAS PHILOSOPHENSCHIFF“


Zu den absurdesten Vorgängen der russischen Oktoberrevolution und des folgenden Bürgerkriegs gehörten die beiden sogenannten Philosophenschiffe, die im Herbst 1922 das damalige Petrograd (heute wieder Sankt Petersburg) verließen. Mit Wissenschaftlern, Ärzten, Schriftstellern und anderen Intellektuellen an Bord sollten sie auf Trotzkis Befehl nach Stettin fahren. Einfach um sie loswerden, andernfalls hätte man erschießen müssen.
Der österreichische Erfolgsautor Michael Köhlmeier macht aus dieser ominösen Maßnahme ungewöhnlicher Milde für jene Jahre einen hintersinnigen Roman, der den Titel „Das Philosophenschiff“ trägt. Dieses dritte Luxusschiff ist allerdings Fiktion und als Passagiere sind auch nur etwa ein Dutzend Intellektueller an Bord, die weg sollen.
Und ein 14-jähriges Mädchen, Tochter eines Professors und einer Ornithologin. Aus ihr wird später die (fiktive) weltberühmte Architektin Anouk Perleman-Jacob. Die zentrale Figur der Geschichte. Es ist Mai 2008, die kettenrauchende alte Dame lebt jetzt in Wien und lud zu ihrem 100. Geburtstag einen besonderen Gast ein: den Schriftsteller Michael Köhlmeier.
Ihr Anliegen an ihn ist eine sehr eigene Autobiografie und dass sie ihn dafür ausgesucht habe, beruhe auf seinem schlechten Ruf. Er sei berüchtigt dafür, von Tatsachen zu schreiben, die sich später als erfunden erweisen. Und sie suche genau jemanden, dem man nicht glaubt, wenn er die Wahrheit schreibt, aber glaubt, wenn er nicht die Wahrheit erzähle: „Und wenn es keiner glaubt, um so besser. Aber erzählt werden soll es.“
Natürlich lässt sich der Schriftsteller darauf ein und wird bald staunen, was die hellwache energische Greisin bisher Unerzähltes zu berichten hat. Das meiste ist real Historisches aus der wilden Zeit in den Wirren der Revolutionsjahre, durchsetzt mit manch galligen Stimmungsbildern und unerfreulichen Erlebnissen echter und fiktiver Personen.
Direkt, souverän und sprachgewaltig erweist sich dieser pseudo-autobiografische Ausflug in das Chaos mit seiner paranoiden Grundstruktur und den extrem vielen menschlichen Kollateralschäden. Dann aber offeriert die alte Dame einen Clou der besonderen art, denn das Schiff muss einige Tage außerhalb des Hafens auf einen letzten, geheimen Passagier warten.
Abgeschirmt von den anderen sitzt er dann in seinem Rollstuhl. „Ein sehr altes, sehr krankes Wesen“, wie die 14-jährige Anouk auf einem nächtlichen Streifzug durch das Schiff entdeckt. Und sie kommen ins Gespräch und das Mädchen hat auch dann weder Angste noch Scheu, als sie erfährt, wer da mit ihr im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt mit ihr spricht: Wladimir Iljitsch Lenin.
Es werden angeregte Gespräche mit dem Mann, der ja der oberste Drahtzieher der chaotischen Zustände in Russland war. Und nun irgendwie am Ende ist. Aber auch der knackige Schluss von Anouks/Köhlmeiers Geschichte ist fiktiv, schließlich starb Lenin tatsächlich an den Folgen mehrerer Schlaganfälle. Sein Todestag jährt sich allerdings erst in diesem Jahr zum hundertsten Mal.
Gleichwohl liest man das alles mit großem Vergnügen, denn Michael Köhlmeier ist einer der unterhaltsamsten Romanciers unserer Zeit und ein bisschen satirisches Spiel mit der Historie kann ja nie schaden....

# Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff; 221 Seiten; Hanser Verlag, München; € 24


WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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