ANN NAPOLITANO: „HALLO, DU SCHÖNE“


„Hallo, du Schöne“ lautet der Titel von Ann Napolitanos neuem Roman. Die US-Erfolgsautorin beschreibt damit jedoch nicht etwa eine Macho-Anmache, vielmehr ist es die alltägliche Begrüßung des liebenswürdigen Charlie Padavano für seine vier Töchter.
Eröffnet wird diese großartige Familiensage allerdings mit einem anderen Protagonisten und dem bedeutungsschweren Satz: „Die ersten sechs Tage seines Lebens war William Waters kein Einzelkind.“ Doch noch in diesem Februar 1960 stirbt die dreijährige Schwester Caroline. Mit fatalen Folgen für den Jungen, denn er wird für die Eltern nun gewissermaßen unsichtbar und wächst gefühlsleer und isoliert auf.
Später wird er einmal aufschreiben: „Ich hätte es sein sollen, nicht sie.“ Sein einziges Plus wird dann, dass er bis zu 2,01 Meter aufschießt und sich selbst zum hervorragenden Basketballspieler trainiert. Ansonsten passt seine Erscheinung mit der blassen Haut, dem mattblonden Haar und den hellblauen Augen zu der inneren Bedeutungslosigkeit, die er für sich wahrnimmt.
Zum Studium geht er von Boston nach Chicago, wird ein geschätzter Mitspieler und lernt dabei Kent kennen, ein unverbrüchlicher Freund fürs Leben. Der große Schwenk in seinem Leben aber geschieht durch Julia Padavano, ein Jahr jünger, ein attraktiver Wirbelwind. Und das für ihn Unfassbare, als sie ihn quasi erobert, wird fast noch übertroffen durch diese Familie in dem bescheidenen Haus im Arbeiterviertel Pilsen.
Während Julia als „die Rakete“ der Schwestern gilt, ist Sylvie die Leseratte. Die Zwillinge Cecelia und Emeline dagegen haben sehr unterschiedliche Interessen, denn die eine hat großes Talent als Malerin, wogegen Emeline eine stark fürsorgliche Ader hat und sich später der Kinderpflege widmet.
Sehr gediegene Charaktere aber sind die Eltern der äußerlich so ähnlichen Teenager, denn Vater Charlie zeigt seine Liebe besonders herzlich, ist aber ebenso gutmütig wie antriebsschwach. Was Mutter Rose angesichts der bescheidenen Lebensverhältnisse hat bitter werden lassen. Zugleich sorgt sie mit rigoroser katholischer Religiosität für einen strikten moralischen Kompass.
Für William tut sich eine andere Welt auf und Julia träumt vom Glück mit ihm. Dafür soll er an der Universität Karriere machen, was sie ganz aktiv in die Wege leitet. Und bald schon wird geheiratet. Doch irgendwie verkraftet William mit all seinen Traumata diesen Sturm an Gefühlen und Dynamik immer schwerer.
Und dann sollen ungeahnte Entwicklungen alle Beteiligten in ihrem Zusammenhalt erschüttern. Da wird die 17-jährige Cecelia schwanger und ihre sittenstrenge Mutter wirft sie raus. Ja, sie unterbindet sogar jeden weiteren Kontakt, obwohl Cecelia bei Nachbarn in derselben Straße unterkommt.
Als Papa Charlie dann heimlich ins Krankenhaus geht, um sein erstes Enkelkind Isabelle – aber auch ihre Mutter – wiederzusehen, bricht er anschließend tot zusammen. Erst jetzt wird offenbar, was für ein beliebter Mensch er war. Und welch eine Säule des Zusammenhalts für die Familie.
Als nächstes nämlich bröckelt die Ehe Julias, die von Williams mangelndem Ehrgeiz schwer enttäuscht ist. Daran ändert auch Tochter Alice nichts, die ebenfalls in diesem schicksalsträchtigen Jahr 1983 geboren wird. William gerät völlig aus dem Ruder und die Entfremdung gipfelt in der abrupten Trennung von Julia – einschließlich der Aufgabe seiner Vaterrolle zu Alice.
„Die Gründe...glichen einer ganzen Serie von Sackgassen“, heißt es schließlich, und eine führt sogar bis zum Suizidversuch Williams. Aber auch zur Annäherung an Sylvie und dem Weggang von Julia und Mutter Rose. Und das ist erst die Mitte des Romans, der sich mit starken Wendungen bis ins Jahr 2008 erstreckt.
Im letzten Drittel spielt dann Alice eine markante Rolle. Sie, die ihrem Vater so ähnlich ist, hat diesen nie gesehen und mit fünf Jahren von der jetzt in New York lebenden Mutter gehört, er sei verstorben. Und dieser grandiose Familienroman hält ein Füllhorn weiterer Entwicklungen bereit, die bis zuletzt glaubhaft und mit exzellent gezeichneten Charakteren überzeugen.
Die Bedeutung von Familie, von Zusammenhalt, von menschlicher Nähe, von Liebe und Vergebung wurde lange nicht mehr so hinreißend dargestellt. Ann Napolitano verwässert dabei nichts durch Sentimentalität und obwohl es eigentlich kein Happyend gibt, gibt es doch eins und man kann sogar ein Taschentuch gebrauchen.

# Ann Napolitano: Hallo, du Schöne (aus dem Amerikansichen von Werner Löcher-Lawrence); 506 seiten; DuMont Verlag, Köln; € 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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