KIMBERLEY BRUBAKER BRADLEY:
GRAS UNTER MEINEN FÜßEN
Ada ist etwa zehn und dass sie wie eine Gefangene in der kleinen Wohnung gehalten wird,
ist ihre eigene Schuld. Schließlich hat sie einen Klumpfuß und ist ein
Krüppel, den man verstecken muss. So jedenfalls sagt es die Mutter, knallhart
und unerbittlich.
Und mit einer erneuten brutalen Zurechtweisung Adas beginnt auch Gras unter meinen
Füßen, der bereits preisgekrönte Roman von Kimberley Brubaker Bradley. Das
einzige, das das Mädchen von der Welt kennt, ist was sie aus dem Fenster zur kleinen
Wohnstraße in London sieht. Der einzige Kontakt außer zu Mam ist der zum vier Jahre
jüngeren Bruder Jamie.
Für den muss sie sich ebenso dienstbar machen wie für die hartherzige Mutter. Die Ada
unweigerlich erneut zur Strafe im Kabuff unter der Spüle einkerkern würde, wenn sie
herausfände, dass die zwar behinderte aber trotz völliger Verwahrlosung nicht dumme Ada
inzwischen so oft das sehr schmerzhafte Gehen geübt hat, dass sie nicht mehr nur auf Po
oder Knien herumkriechen kann.
Ada weiß, dass sie trotzdem mit ihrem schlimmen hässlichen Fuß keine
wirkliche Chance gegen die zynische Unterjochung durch Mam hat. Und doch erhält sie eine,
denn man schreibt das Jahr 1939, Krieg droht und die Regierung ordnet wegen wahrscheinlicer
Bombenangriffe die Evakuierung aller Kinder aufs Land an.
Als Jamie am nächsten Morgen mit seiner Schulklasse abtransportiert werden soll, reißt
Ada mit ihm ganz früh zur Schule aus. Unter Qualen erreicht sie den Zug in die Freiheit
im ländlichen Kent. Wo die Geschwister in ihrem verwahrlosten Zustand als Einzige keine
Pateneltern finden.
Schließlich werden sie Susan Smith zugewiesen. Die hat zwar ein Haus mit Garten, aber
Kinder wollte sie nie. Außerdem trauert die studierte Frau um ihre verstorbene
Lebensgefährtin. So wird es eine schwierige Annäherung, zugleich aber für die Kindern,
die bis dahin fast wie Tiere gehalten wurden, wie der Eintritt ins Paradies.
Saubere Kleidung, richtige Betten und Mahlzeiten und für Ada ein besonderer Traum: das
Pony namens Butter, mit dem sie sich intensiv befassen und anfreunden darf. Von all dem
berichtet Ada als inzwischen ältere Ich-Erzählerin ebenso nüchtern wie fesselnd und vor
allem ohne jedes Selbstmitleid.
Und bei all dem Guten, das den Kindern hier bei der spröden aber sehr fürsorglichen
Susan Smith widerfährt, brodeln die abgrundtiefen Wunden Adas immer wieder hoch. Da ist
es nur psychologisch zu erklären, wenn in ihr einerseits all die Demütigungen, die
Herabwürdigung als Dreck hochkochen, und dennoch auch Anflüge von Sehnsucht
nach dieser unglaublichen Rabenmutter aufkommen.
Was bei Jamie ebenso passiert, allerdings hatte er auch stets andere Freiheiten bei Mam.
Dann bricht tatsächlich der Zweite Weltkrieg aus und England ist direkt bedroht. Mit
großartigem Zeit- Und Lokalkolorit erlebt man diese Stimmung von Furcht und Ungewissheit
mit sowie die große Veränderung sämtlicher Lebensumstände auch hier in diesem Dorf am
Ärmelkanal.
Dennoch steht weiterhin das Ringen zwischen Ada und Susan Smith im Mittelpunkt. Immer
selbstverständlicher wird der gebildeten Frau die Fürsorge für beide Kinder. Obwohl
besonders Ada oft störrisch und undankbar reagiert und sich voller Misstrauen gegen jede
Form von Zuwendung sträubt.
Hinzu kommen die ständige Ängste, wieder fortgeschickt zu werden. Die zu Weihnachten zu
Szenen führen, die tief unter die Haut gehen und im Nervenzusammenbruch Adas gipfeln. Und
nach ersten Kriegsereignissen mit Ada als kleiner Heldin, ihrer Glückseligkeit an
Krücken laufen und mit Butter herumreiten zu dürfen, der krasse Schnitt.
Plötzlich steht die keifende Mam vor den Dreien und reißt die Kinder aus ihrem kaum
gewonnenen richtigen Leben. Ist nun alles verloren? - Mehr aber sei hier nicht verraten
von diesem ernsten und psychologisch hervorragend durchdachten Roman.
Bleibt die Frage der Zuordnung, denn mag die Ich-Erzählerin zur Berichtszeit auch zehn
oder elf Jahre alte sein, ist dies kein Kinderbuch. Frühstens ab 14 Jahre lautet hier die
Empfehlung und die gilt insbesondere für erwachsene Leser, die von diesem Meisterwerk
mindestens ebenso gefesselt sein werden.
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