CHRISTOPHER CLARK: FRÜHLING
DER REVOLUTION
Die Französische Revolution und die Oktoberrevolution kennt jeder. Warum aber ist die
Revolution von 1848 so wenig präsent? War sie so wenig bedeutsam oder liegt es daran,
dass es in Wirklichkeit eine ganze Kette von Revolutionen in diesem einen Jahr gab und sie
allesamt scheiterten?
Insbesondere die Vielzahl der teils gleichzeitigen Aufstände und ihr vermeintliches
Scheitern veranlassten mit Christopher Clark einen der berühmtesten zeitgenössischen
Historiker, sich des Themenkomplexes anzunehmen. Frühling der Revolution. Europa
1848/49 und der Kampf für eine neue Welt hat der australische Professor für Neuere
Geschichte am St. Catharine's College der Universität Cambridge das Werk überschrieben.
In der umfangreichen Einleitung macht der Bestsellerautor (Die Schlafwandler)
deutlich, dass 1848 die einzige wahrhaft europäische Revolution der Geschichte
stattgefunden habe. Es seien allerdings verschiedene europäische Aufstände gewesen und
das mit globalen Dimensionen. Der gesamte Kontinent war betroffen von Sizilien bis
Dänemark, von der Walachei bis nach Wien, Prag und Budapest sowie in den Großmächten
Preußen, Frankreich, Russland und dem Habsburgerreich.
Weniger bewusst ist selbst Kennern, dass es auch den Vatikanstaat traf und dass der
Auftakt ausgerechnet von der beschaulichen Schweiz ausging. In drei Phasen unterteilt der
Historiker den Zeitraum, in dem im Februar und März 1848 Unruhen losbrachen und wie ein
Lauffeuer als europäischer Frühling über den Kontinent fegten.
In der zweiten Phase in Mai und Juni des Jahres sei es zu Blutvergießen und Klassenkampf
gekommen. Das sei die Zeit gewesen, als die Revolution ihre Unschuld verlor.
Auf breiter europäischer Ebene setzte dann im Herbst die Konterrevolution zum Gegenschlag
an, der sich teils bis ins folgende Jahr hinzog. Ende Sommer 1849 waren die Revolutionen
quasi vorüber.
Hier aber stellt Clark bereits klar, dass von dem in den Geschichtsbüchern seit jeher
postulierten Scheitern nicht wirklich die Rede sein könne. Vielmehr sei ungeheuer viel an
grundlegenden Änderungen in Bewegung gesetzt worden, auch wenn sich dies nicht
unmittelbar und weit weniger als von den Aufständischen angestrebt niedergeschlagen habe.
Verfassungen, Wahlrecht, Pressefreiheit, die Abschaffung der Sklaverei und selbst der
soziale Wohnungsbau alles wurde losgetreten in diesen Revolutionen. Die weiteren
Entwicklungen der neuen Errungenschaften waren dann allerdings so unterschiedlich wie das
Tableau der großenteils gleichzeitig stattfindenden Aufstände widersprüchlich und
komplex waren.
Eingangs der neuen großen Kapitel geht Clark auf die Vorlaufzeit dieses Revolutionsjahres
ein und schildert anhand vielerlei Fakten die prekäre soziale Welt mit Armut,
Wohnungselend, Ausbeutung in den aufkommenden Fabriken und die weit verbreitete
Prostitution aus der schieren Not heraus. Doch er stellt entgegen der massiven Verelendung
von Millionen Menschen klar, dass sich kein direkter kausaler Zusammenhang zwischen
der sozialen Not dieser Jahrzehnte und dem Ausbruch der Revolutionen im Jahr 1848
ableiten lasse.
Und dann beschreibt er umfassend Hintergründe wie Missernten, Hungersnöte und
Arbeiterausbeutung und die Aufstände in den verschiedenen Städten und Ländern, ihre
Auslöser und ihre Verläufe. Er tut dies weniger mit historischer Faktenhuberei als
vielmehr mit der plastischer Darstellung von Ereignissen, Zusammenhängen und Folgen.
Rhetorisch brillant wie stets, bemüht der Experte weniger einen wissenschaftlichen
Duktus, sondern schildert manches sogar geradezu anekdotenhaft, wenngleich auf belastbaren
Quellen beruhend. Wobei er die Niederschlagung sämtlicher Aufstände keineswegs
relativiert. In ihrer Zielsetzung gescheitert seien die Raikalen, wogegen sich die
liberalen Kräfte mehr oder weniger erfolgreich durchsetzen konnten indem sie sich
mit den konservativen Kräften verbündeten.
Vieles an erstrittenen Errungenschaften wie ab 1849 wieder zurückgesetzt worden, doch die
Grundlagen waren gelegt: der Samen war gesät. Und das mit erheblichen Auswirkungen bis in
die Gegenwart, wie Christopher Clark schlüssig resümiert.
Fazit: das ist Geschichtsschreibung vom Feinsten, gut verständlich und qualitativ wie
quantitativ so umfassend, dass man künftig bei diesem epochalen Themenkomplex um dieses
Standardwerk nicht herumkommen kann.
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