JONATHAN LEE: „JOY“


Bevor Jonathan Lee zu einem der angesagtesten britischen Autoren wurde, arbeitet er unter anderem auch einige Jahre in einer Londoner Anwaltskanzlei. Eine solche in einem der typischen City-Glaspaläste war auch Schauplatz seines zweiten Romans, der nun mit zwölf Jahren Verspätung endlich auch auf Deutsch vorliegt.
„Joy“ heißt der Titel und das während das Wort so viel wie Freude bedeutet, ist es hier der Name der Hauptperson. Diese Joy Stephens zählt mit ihren 33 Jahren zu den Überfliegern ihrer Kanzlei und heute soll sie sogar zur Partnerin befördert werden.
Doch als Leser erfährt man bereits im ersten Kapitel, dass die als „im Ganzen ein authentischer und unprätentiöser Mensch“ charakterisierte kühle Schönheit genau für diesen Tag ihren Suizid geplant hat. Andeutungen für ihre Beweggründe klingen bald an, denn nach zehn Jahren erfolgreicher 16-Stundenarbeitstage ist sie nicht nur überarbeitet, sie empfindet schlicht Überdruss und Leere.
Wozu dieser Einstieg einen Tropfen beisteuert, der das Fass hätte zum Überlaufen bringen können, stünde der Entschluss nicht ohnehin schon fest. Da erwischt sie beim nächtlichen Nachhausekommen ihren deutlich älteren Ehemann Dennis in flagranti. Was sie allerdings daran am meisten empört, ist, dass die junge Dame ihr gemeinsames Donnerstags-Callgirl ist – Sex zu dritt war längst zum nötigen Ritual geworden.
Dennis bemüht sich gleichwohl überaus peinlich, um eine Entschuldigung. Der Literaturprofessor erweist sich dann als einer der vier Ich-Erzähler in der Folge als selbstherrlicher Mann mit Munddiarrhoe. Diese Vier, die alle ihre Meinungen und Empfindungen zu dem Geschehen einem hauseigenen Psychologen schildern, wechseln sich in raffinierter Dramaturgie mit dem Countdown ab, der Joys Ablauf ihres letzten Tages herunterzählt.
Ihr präziser Lauf lässt aber auch Raum für prägende Erinnerungen, bei denen ein erfolglos verdrängtes Trauma eine unterschwellige Rolle spielt: ihr kleiner Neffe verschwand im Gewühl eines Sportstadions aus ihrer Obhut. Spurlos.
Andere Spuren ihres Lebens schlagen sich derweil nieder in den Äußerungen der Ich-Erzähler, unter ihnen Joys persönliche Assistentin, der junge Mann aus dem Fitnessraum der Kanzlei, vor dem Joy aus fast 15 Metern auf dem Marmorboden aufschlug. Und schließlich ist da noch der langjährige Kollege Peter, ein seltsam verschrobener Berichterstatter und zugleich Ehemann von Joys einziger Freundin.
Und so wie Joys Fall die edle Fassade von „Hanger, Slyde & Stein“ ankratzt, entlarven die Reaktionen des Quartetts so manche wenig erfreulichen Geheimnisse. Joys Name ist hier wahrlich bei allen Erfolgen und Höhenflügen nicht Programm und das hat Jonathan Lee in seinem ebenso intelligenten wie kühlen Roman schonungslos und mit herbem Sarkasmus exzellent dargestellt.

# Jonathan Lee: Joy (aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann); 374 Seiten; Diogenes Verlag, Zürich; € 25

WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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