MAT OSMAN: „DAS VOGELMÄDCHEN VON LONDON“


London 1601, die etwa 16-jährige Shay flüchtet mal wieder über die Dächer der Stadt. Dort begegnet sie einem Jüngling in ihrem Alter, der sich Nonesuch nennt und sie vor ihren Häschern rettet.
Damit beginnt „Das Vogelmädchen von London“, der Debütroman von Mat Osman, in den 90er Jahren Bassist und Mitbegrü+nder der Britpop-Band The Suede. Die Hatz auf Shay hatte einen triftigen Grund, denn einmal mehr hatte das Mädchen aus dem Marschland außerhalb der Stadt bei einem ihrer Botengänge wertvolle Vögel aus deren Käfigen befreit.
Ihre Leute gehören zu den sogenannten Aviscutariern, die Vögel wie Götter verehren. Sie stehen aber auch im Ruf, aus dem Zug der Vögel wie auch aus Karten wahrsagen zu können. Shay hat vom Vater außerdem die Ausbildung von Falken gelernt, muss sich aber notgedrungen mit Botengängen durchschlagen. Wobei sie sich als Junge verkleidet und sogar ihren Busen wegbindet, da solches Tun für weibliche Personen verboten ist.
Das gilt jedoch ebenso im Theater, in dem auch die Frauenrollen nur von männlichen Akteuren gespielt werden dürfen. Das erführt Shay nun, als Nonesuch sie genau dort hinführt, ins berühmte (historisch echte) Blackfriars Theatre. Dessen Chef Evans seine meist jugendlichen Schauspieler wie Sklaven hält.
Bis hin zu obskuren Dienstleistungen für die reichen Besucher, denn Evans hat das „Königliche Privileg“. Das sogar so weit geht, dass Königin Elisabeth, inzwischen Ende 60 und absehbar nicht mehr lange auf dem Thron, persönlich hier auftaucht. Shay ist fasziniert von der Theaterwelt und schließt sich der Truppe an.
Doch nicht nur diese spezielle Atmosphäre wird detailliert und sehr spannend geschildert, auch das brodelnde Leben in der übervölkerten Stadt, in der die meisten Menschen sich elendig durchschlagen müssen, während die gehobene Gesellschaft in Saus und Braus vor lauter Gier jegliche moralische Grenzen missachtet.
Zugleich ist die lebenspralle Beschreibung des Zeit- und Lokalkolorits so intensiv, dass man die Geräusche zu hören und vor allem die Gerüche deutlich wahrzunehmen vermeint. Und es geht deftig bis brutal zu und selbst die Liebelei zwischen den hinreißenden Charakteren Shay und Nonesuch gestaltet sich eher derb.
Und es kommt zur ersten heiklen Begegnung, denn Shays Gabe als Wahrsagerin wird ruchbar, so dass die Königin selbst nach ihren Diensten verlangt. Es sind magische Szenen, viel schlimmer jedoch ist, dass es ungeahnte Konsequenzen nicht nur für Shay nach sich zieht.
Die dann mit Nonesuch und anderen Vertrauten Evans entflieht, um ein eigenes, das Ghost Theater, zu gründen. Dort jedoch gerät Shay erst recht ins Rampenlicht. Und erneut ins Visier der alternden Königin, während sich zugleich Gerüchte über Aufrührer in ganz London verbreiten. Es wird gefährlich für alle Beteiligten und dann erlebt Shay eine unglaublich geisterhafte Szene am Rande des Deliriums.
Und einem Fiebertraum gleicht denn auch dieser mal poetische, mal fast unflätige Historienroman mit dem überaus zweifelhaften Nonesuch und noch mehr mit Shay, dem Vogelmädchen. Eine solche ungewöhnliche Heldin, die weder schön noch gar eine Lichtgestalt ist, hat lange nicht mehr eine solch opulente Geschichte beherrscht.
Die Atmosphäre ist dicht, düster und sozialkritisch, vor allem aber so komplex, dass man zuweilen Sätze zweimal lesen muss. Wer sich trotzdem auf dieses exaltierte Lesevergnügen einlässt, wird reich belohnt.

# Mat Osman: Das Vogelmädchen von London (aus dem Englischen von Ulrike Seeberger); 492 Seiten; Rütten & Loening Verlag, Berlin; € 22

 
WOLFGANG A. NIEMANN (wan/JULIUS)

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