ANDERSEN/LACOMBE: DIE KLEINE
MEERJUNGFRAU
Die kleine Meerjungfrau zählt zu den schönsten Märchen der Weltliteratur,
ist aber eigentlich nicht wirklich für Kinder geschrieben. Das erfährt man in dem
prachtvollen Textbildband, mit sich der französische Illustrator Benjamin Lacombe erneut
einem klassischen Titel widmet.
Es ist das spezielle Drama des großen Märchendichters Hans Christian Andersen
(1805-1875), das in dieser Geschichte einer Metamorphose aus Liebe steckt. Man erinnert
sich, wie die kleine Meerjungfrau sich in den Prinzen verliebt, den sie vorm Ertrinken
gerettet hat. Nur um dann zu erleben, dass der eine Königstochter heiratet, obwohl sie
sich unter schlimmen Schmerzen extra für ihn in Menschengestalt verwandelt hat.
Jean-Baptiste Coursaud deutet schon im Vorwort auf die vielen Deutungsansätze und die
Ambivalenz der Figuren hin. Und tatsächlich eröffnet sich bei bewusstem Lesen und
angesichts der kunstvollen Illustrationen mit ihrer magischen Ausstrahlung von Anmut und
Eleganz der Blick für die Durchlässigkeit der Identitäten aus heutiger Sicht
ebenso unübersehbar wie modern.
Andersen selbst betonte, dass ihm dieses Märchen am nächsten war. Doch dem so tragischen
Ende der kleinen Meerjungfrau steht hier auch ein zunächst hoffnungsvolleres
Schlusskapitel entgegen, das der Dichter dann jedoch strich. Das und auch der abgedruckte
Briefwechsel Andersens mit dem Freund Edvard Collin lassen es bereits ahnen: dieses
Märchen steht für seine eigene unerfüllte große Liebe.
Und Jean-Baptiste Coursaud gibt als Anhang eine detaillierte literaturwissenschaftliche
Beweisführung für Andersens hoffnungslose homosexuelle Leidenschaft für Collin. Die
allerdings aus naheliegenden Gründen bis in die jüngere Gegenwart biografisch
verbogen wurde, denn: ein Schwuler als Dänemarks Nationaldichter, das ging
gar nicht.
Fazit: ein wunderschönes Kunstbuch mit magischen Illustrationen und einem
Märchenklassiker samt dessen Hintergrundgeschichte.
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